Optimum - Kalte Spuren
sich vor ihre Augen gelegt hatte. Da stand etwas von sprachlicher Begabung, von Sozialkompetenz, von einem generell hohen IQ . Sie verstand natürlich die einzelnen Zeilen. Dinge, die sich ihre Eltern an einem Kind gewünscht hatten. Züge, die sie in ihrer Tochter gern entwickelt wussten. Eliza las »sprachliche Begabung«, und ihr kam der Tag in den Sinn, an dem ihr Vater sie so stolz angesehen hatte, als sie ihm verkündet hatte, dass sie ihren dritten Fremdsprachenkurs belegen wollte. Sie war neun Jahre alt gewesen. »Du bist so geschickt mit Sprachen«, hatte ihr Vater bewundernd gesagt, und Eliza erinnerte sich daran, wie sehr sie sich gefreut hatte.
Jetzt nicht mehr.
Ihr Vater hatte sie für etwas gelobt, das er für sie bestellt hatte. Wie ein Punkt auf einer Pizzakarte. »Ach, ich hätte gern die sprachliche Begabung und extra Käse.«
Eliza wurde sich bewusst, dass jemand auf sie einredete. Rica. Rica sprach mit ihr. Es konnte ihr nicht gleichgültiger sein. Eliza blätterte eine Seite weiter, stieß auf eine lange Liste von »vorgeschlagenen Behandlungsmethoden«, die ihr nicht viel sagten. Da war von Gen-Replacement die Rede, und von Sequenzaustausch. Es reichte, um eine ungefähre Vorstellung davon zu bekommen, was da abgelaufen war. Irgendjemand hatte in ihrer DNA , ihrem genetischen Code herumgepfuscht, und zwar lange bevor Eliza geboren worden war.
Das Schlimmste aber war die unterste Zeile des Formulars. Unter einer Widerrufsbelehrung, die sich las wie die auf einer Internet-Shopping-Seite, stand: »Unterschrift der Eltern.« Und dort fand Eliza die beiden bekannten Schriftzüge wieder, die seit jeher auf ihren Zeugnissen, unter ihren Entschuldigungen und unter den Schulaufsätzen aufgetaucht waren. Die weit geschwungene Handschrift ihrer Mutter mit den vielen Schleifen und Bögen. Die spitzen, akkuraten Buchstaben ihres Vaters.
Sie haben mich gekauft, dachte Eliza. Sie haben mich nach einem Bausatz zusammengestellt wie ein verdammtes Regalsystem. Und da habe ich geglaubt, meine Eltern lieben mich. Vermutlich taten sie das auch. Immerhin hatten sie – in ihren Augen – ein Erfolgsrezept zusammengestellt.
»Eliza! Hörst du mich nicht?« Ricas Stimme klang wie aus weiter Ferne. Eliza konnte die Worte nicht mit dem vereinbaren, was ihr gerade durch den Kopf ging. Erst, als etwas sie an der Schulter berührte, schreckte sie zusammen. Jetzt sind sie gekommen, mich abzuholen, schoss es ihr durch den Kopf. Ich habe ihr Geheimnis herausgefunden, und jetzt holen sie mich ab. Im nächsten Augenblick wurde ihr bewusst, wie lächerlich der Gedanke war. Dennoch klopfte ihr Herz wie wild, als sie sich umdrehte.
Nathan sah sie mit besorgtem Gesichtsausdruck an. Glücklicherweise sah er davon ab, sie zu fragen, ob sie okay war. Wenn er das getan hätte, wäre sie ihm vermutlich an die Kehle gesprungen.
»Was steht drin?«, wollte er stattdessen sehr leise wissen. »Schlimm?«
Eliza nickte nur und schlug den Ordner zu. Als hätte sie damit irgendwie den Rest ihres Körpers wieder eingeschaltet, merkte sie jetzt erst, wie übel und schwindelig ihr war. Ihr Kopf hämmerte, als sei jemand mit dem Presslufthammer darin unterwegs, und ihr war irgendwie heiß und kalt gleichzeitig.
»Sollen wir den Ordner mitnehmen?«, fragte Rica vorsichtig von der anderen Seite. »Vielleicht hilft es, wenn –«
»Jetzt nicht.« Elizas Ohren dröhnten, und der Raum drehte sich vor ihren Augen, aber tatsächlich brachte sie es noch irgendwie fertig, klar zu denken. Kein Wunder. Meine Eltern haben einen extra hohen IQ bestellt. Dafür sollte ich ihnen bei Gelegenheit mal danken. »Wir kommen nicht ins Tal runter. Momentan sind wir hier nur eingebrochen. Vielleicht lässt er das ja noch durchgehen. Immerhin riskiert er viel, wenn er bei uns auftaucht. Aber wenn wir jetzt Sachen mitnehmen und nicht gleich zur Polizei können, dann kommt er bestimmt und stöbert uns auf.« Sie schüttelte den Kopf, und wieder verschwamm das Zimmer vor ihren Augen. »Wir müssen noch mal wiederkommen. Wenn weniger Schnee liegt.« Und wenn es mir besser geht.
Rica sah nicht überzeugt aus, aber es stand auch Sorge in ihren Augen. »Okay, wenn du meinst.« Sie streckte kurz die Hand aus, als wolle sie Eliza stützen, ließ es dann aber doch sein. »Dann lass uns machen, dass wir zurück …«
Schritte knirschten draußen im Schnee. Sie näherten sich eindeutig dem Unterschlupf.
Kapitel dreizehn
Verloren
Rica warf einen panischen Blick zu
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