Optimum - Kalte Spuren
wischte er sie fort. »Da bin ich zurück zur Tür und hab versucht, sie aufzubekommen. Doch sie war verschlossen. Ich hab eine Weile dran gezogen, aber es war so eiskalt, da dachte ich, ich gehe besser in den Schuppen, wo es warm ist .« Er schniefte. »Irgendwie bin ich nicht da angekommen, oder ?«
Nathan schüttelte den Kopf und sah besorgt zu Rica auf. »Wir haben dich im Schnee gefunden. Es war ganz schön leichtsinnig von dir, einfach so allein rauszugehen .«
»Ich weiß « , meinte Simon kleinlaut und begann wieder zu husten. »Torben hat ja auch gesagt, dass wir das nicht sollen. Aber ich dachte, nur eben zum Schuppen …« Der Husten überwältigte ihn abermals und raubte ihm die Sprache.
Rica runzelte die Stirn. Simon sah jämmerlich aus, das war richtig, aber irgendwas an der Geschichte kam ihr ziemlich komisch vor. »Als wir unten angekommen sind, stand die Tür offen « , stellte sie fest. »Sie war nicht verschlossen .«
Nathan schenkte ihr einen vorwurfsvollen Blick. »Vielleicht hat, wer auch immer es war, sie wieder geöffnet « , gab er zurück.
»Warum sollte er das tun ?« , fragte Rica. »Damit hat er doch fast sichergestellt, dass jemand nach draußen geht und nach dem Rechten sieht. Wenn er Simon wirklich hätte schaden wollen …« Doch eine ärgerliche Handbewegung von Nathan schnitt ihr das Wort ab. »Wie wäre es, wenn du dich mal um etwas Heißes zu Trinken kümmerst. Der Kleine hier muss sich aufwärmen. Wir können froh sein, wenn er sich nichts Schlimmes eingefangen hat .«
Simon hustete wieder wie auf Kommando. Entweder hatte er den unterschwelligen Vorwurf in Ricas Worten überhaupt nicht mitbekommen, oder es kümmerte ihn nicht, was hier geredet wurde, jedenfalls starrte er nur apathisch auf das Feuer im Kamin und sagte gar nichts.
Rica zögerte noch. »Nathan, was … «
Nathans Augenbrauen zogen sich bedrohlich zusammen. Es war offensichtlich, dass er kurz vor einem Wutausbruch stand. Hastig wandte Rica sich um und lief in die Küche, um den Wasserkocher anzuwerfen.
Während das Wasser neben ihr brodelte, grübelte sie über Nathan nach. Sie verstand nicht, warum er Simons Geschichte so überhaupt nicht hinterfragte. Irgendetwas stimmte daran doch hinten und vorne nicht. Simon hatte sich bisher nicht gerade durch Heldenmut hervorgetan, und nun wagte er sich freiwillig nachts allein in den Schnee hinaus? Und dann die Geschichte mit der Tür. Es gab wirklich keinen Grund, warum jemand, der Simon schaden wollte, sie offen stehen lassen sollte, nachdem er zusammengebrochen war. Außerdem hätte das Ganze nur wenige Minuten vor Nathans und Ricas Ankunft ablaufen müssen, und wohin sollte der- oder diejenige verschwunden sein?
Das Wasser kochte. Rica nahm eine Schachtel mit Teebeuteln aus einem Schrank, hängte einen von ihnen in einen Becher und goss den Tee auf. Das Wasser nahm sofort eine blutrote Farbe an, die ihr unangenehm war. Vorsichtig griff sie den Henkel und trug den Becher zurück in den Aufenthaltsraum.
Nathan hatte es Simon inzwischen bequemer gemacht. Er hatte ein paar Decken aus den Banktruhen geholt und dem Jungen ein Lager bereitet, ihm das Pyjamaoberteil ausgezogen und ihn in eine weitere Decke gewickelt. Simon sah immer noch blass aus, aber irgendwie auch sehr zufrieden mit seiner Lage.
Ich bin mir sicher, er wollte sich einfach nur interessant machen. Vielleicht ist er wirklich rausgegangen, um die Heizung wieder anzuschmeißen, aber dann hat er uns kommen hören und die Gelegenheit ergriffen, auf armes kleines Opfer zu machen. Rica reichte Simon die Tasse und musterte ihn scharf. Das Lächeln, das er ihr schenkte, war so dankbar, offen und ehrlich, dass sie fast an sich zweifelte. Aber eben nur fast. Warum nur glaubt Nathan ihm so unbesehen?
»Bist du jetzt okay? Geht es dir besser ?« , wollte Nathan wissen. »Kein bleibender Schaden ?«
Simon nippte an seinem Tee und schien zu überlegen. »Ich glaube nicht « , meinte er dann und hustete noch mal. »Ihr seid wohl gerade noch rechtzeitig gekommen .« Wieder lächelte er. Dieses Mal fiel Rica noch etwas auf. Wenn er lächelte, schien eine kleine Sonne in seinem Gesicht aufzuleuchten. Sein Lächeln beinhaltete alles, was man sich von einem Kinderlächeln wünschen konnte. Charme, Wärme, Vertrauen, großäugiges Staunen. Es war ein Ausdruck, der Erwachsene nostalgisch stimmen konnte, und nicht nur sie. Auch Rica wünschte sich für einen Augenblick, einen kleinen Bruder zu haben. Genau so einen wie
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