Opus 01 - Das verbotene Buch
– er drückte sie mit der Schulter auf und durchmaß den schmalen Raum bis zur hinteren Wand: Auf einem kniehohen Sockel stand dort ein Sarkophag von gewaltigen Ausmaßen, das Innere trocken und bis auf ein wenig Staub und Spinnweben leer. Der steinerne Deckel, verziert mit Engel- und Sternenreliefs, ruhte versetzt auf dem Behältnis – die Öffnung war eben breit genug, dass er Oda mit den Füßen voran hineingleiten lassen konnte. Er entzündete die Kerze, die er eigens eingesteckt hatte, und leuchtete ihr Gesicht an. Sanft lächelte sie zu ihm empor, so als ob sie sagen wollte: Nur Mut, Bruder, du schaffst das auch allein.
Dass ihm die Tränen über die Wangen rannen, merkte er erst, als ein Tropfen auf die Kerze hinabfiel und die Flamme beinahe löschte. Du hast recht, Oda, dachte er, ich muss gehen.
Eben wollte er den Deckel über ihr schließen, da fiel ihm noch etwas ein. Wie hatte er das nur vergessen können! Er wandte sich um, lief an Onkel Heribert vorbei, die schmale Treppe wieder hoch, um den Palas halb herum und noch einmal in den Saal. Er gab sich Mühe, die summenden Fliegen, das Getrappel und Gefiepe der Ratten zu ignorieren. Ganz hinten im Saal, dort wo esHöttsche aus der Hand gefallen war, lag das Erbschwert der Edlen von Hohenheim. Amos hob es mit einiger Anstrengung auf und machte sich auf den Rückweg. Die gewaltige Klinge schimmerte in der Morgensonne und im Gehen musterte er noch einmal das geheimnisvolle Wappen mit der im Himmel schwebenden Schriftrolle und dem weit geöffneten Auge im Dreieck zwischen den gekreuzten Schwertern.
Er legte das Schwert neben Oda in den Sarkophag. »Ruhe in Frieden, meine liebe Schwester«, flüsterte er, und bevor ihm das Herz vor Trauer und Schmerz entzweibrechen konnte, schob er hastig den Deckel über sie, schloss die Tür zwischen ihr und dem Ritter und lief davon, so schnell seine Füße ihn trugen.
Amos rannte durch den Durchlass und den Klettersteig hinab, dann im Laufschritt weiter durchs Tannenholz, wohl eine Stunde lang. Auf halber Strecke entsprang der Gründleinsbach aus seinem Felsenquell – ein waagrechter Spalt in der bemoosten Bergwand, der wie ein vorgestülptes Riesenmaul aussah. Wie jedes Mal machte Amos hier einen Augenblick Rast, um ein paar Schlucke Wasser zu trinken. Wusch sich die Hände, hielt sie dann, zur Schale gewölbt, unter den klaren, eisig kalten Strahl und lief gleich darauf weiter, nun auf abschüssigem Pfad, den murmelnden Bach zu seiner Linken.
Seit Minuten schon hatte er den Brandgeruch in der Nase und beinahe mit jedem Schritt wurde er ärger. Im Laufen lauschte Amos immer wieder in sich hinein und auch das Beben und Flackern, das von Kronus’ Lichtquell ausging, nahm unaufhörlich zu. Der goldene Strahl, der sie miteinander verband, war längst von dem Flackern ergriffen worden und die Verbindung zwischen ihnen wurde schwächer und schwächer.
Der alte Mann war in allergrößter Gefahr, das fühlte Amos nun überdeutlich. Fast war es, als ob Kronus bei ihm wäre und beschwörend auf ihn einredete: Nur du kannst mir noch beistehen, mein Junge. Ich habe dir immer vertraut, und ich weiß, du wirst mich nicht enttäuschen.
Aber was kann ich denn, Herr, dachte er im Rennen, gegen den Inquisitor und seine Soldaten tun? Ich bin nur ein einzelner schwacher Junge, in einem Geheimnis wie einem riesenhaften Spinnennetz gefangen. Woher soll ich die Kräfte nehmen, um mich und Euch aus diesem Netz zu befreien?
Das Beben und Flackern wurde ärger und ärger und im gleichen Maß schwanden Wärme und Leuchtkraft des goldenen Strahls. Der Lichtquell, von dem er ausging, ähnelte längst nicht mehr dem Abendstern in tiefer Nacht, sondern höchstens noch einer Sternschnuppe, die flimmernd und flackernd gegen ihr Erlöschen ankämpfte.
Hinter der letzten Wegbiegung kam endlich das Gehöft in Sicht und der Anblick war so grauenvoll, dass Amos aufstöhnte. Unwillkürlich war er stehen geblieben und starrte in die kleine Talmulde hinab, den Ort, der in den letzten Jahren zu seinem eigentlichen Zuhause geworden war.
Der Mühlhof war nur noch eine rauchende Ruine. Das Haupthaus schien gänzlich in sich zusammengestürzt, unter Dachbalken und geborstenen Schindeln verschüttet. Wo einmal der hölzerne Stallbau gewesen war, klaffte eine breite Lücke. Dahinter war der Gründleinsbach zu sehen, die Weide, der Waldsaum.
Alles wirkte verlassen, menschenleer. Dennoch begann Amos’ Herz heftig zu klopfen, als er langsam weiterging, den
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