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Opus 01 - Das verbotene Buch

Titel: Opus 01 - Das verbotene Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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Kronus hatte ihn hierher gerufen, damit er eine wichtige Aufgabe erfüllte. Anstatt sich seiner Angst und seinem Schmerz zu überlassen, musste er alle seine Sinne anstrengen, um herauszufinden, was Kronus von ihm erwartete.
    Aufmerksamer sah er sich nun in dem Wirrwarr aus rußigen Balken und verkohlten Schriftwerken um. Manche Bücher schienen auf den ersten Blick wie durch ein Wunder unbeschädigt – doch wenn er sie vom Boden aufheben wollte, zerfielen sie zu Ruß und Asche. Nichts war der Zerstörungswut der Eindringlinge entgangen – selbst Kronus’ wuchtigem Pult hatten sie übel mitgespielt. Vornüber gestürzt lag es inmitten der Stube und es sah nun weniger wie ein Buch als wie eine hölzerne Hütte aus – wie eine jener einfachen Köhlerhütten, die eigentlich nur aus einem steil ansteigenden Zeltdach bestehen. Was sich sonst immer auf der Pultfläche befunden hatte, lag rings umher verstreut – Tintenfässchen, zerbrochene Federn, das silberne Pentagramm. Nur der faustgroße Totenkopf war noch immer an der Pultplatte befestigt, die nun so etwas wie die Rückwand der Bücherhütte bildete.
    Amos kauerte sich davor und der Totenkopf schien ihn mit einem trübseligen Grinsen zu begrüßen. Aus dieser Entfernung war auch deutlich zu sehen, dass nicht beide Augen des kleinen Elfenbeinschädels so leer waren, wie man das bei einem Totenkopf erwartete. Ein winziges Schloss war in der linken Augenhöhle versteckt, und erst als Amos sich bereits nach dem goldenen Mistelzweig umsah, wurde ihm so richtig bewusst, dass er einen Teil der Antwort gefunden hatte: Was auch immer Kronus vor seinen Widersachern in Sicherheit gebracht hatte, musste dort unten verborgen sein. In dem unterirdischen Tunnel, den der alte Mann ihm vor einigen Wochen eigens gezeigt hatte.
    Warum hatte er nicht gleich daran gedacht? Und wo um Himmels willen war der vergoldete Mistelzweig – der Schlüssel, der die geheime Falltür öffnete? Vielleicht befand sich sogar Kronusselbst dort unten und höchstwahrscheinlich war der alte Mann gefährlich verletzt – doch anstatt sich sofort an seine Rettung zu machen, hatte er, Amos, wahllos hier oben in der Stube herumgesucht!
    Gütiger Gott, dachte er – mach, dass ich den Mistelzweig finde! Und dass der Mechanismus noch funktioniert.
    Während er dieses Stoßgebet zum Himmel schickte, kroch und tastete er bereits auf dem rußigen Boden herum. Er schob qualmende Balkenstücke zur Seite, blies in Aschehäuflein, schüttelte zerbröselnde Papierstapel, doch der vermaledeite Mistelzweig war nirgends zu sehen. So angestrengt suchte er in allen Winkeln und Ecken, dass er beinahe die leisen Schritte überhört hätte, die vom einstigen Stall her näher kamen.
    Eben noch hatte Amos’ Herz so wild geklopft, als ob es ihm in der Brust zerspringen wollte – jetzt setzte es für einen halben Schlag aus. Wer konnte das sein? Kronus? Nein, dafür bewegte sich dieser Andere da draußen zu leichtfüßig – es musste ein weit jüngerer Mann sein.
    Einer der Bücherjäger.
    Panisch sah Amos um sich. Was sollte er jetzt machen? Wo sich verstecken? Im ersten Impuls wollte er aufspringen, sich im hinteren Zimmer verbergen – aber dort säße er in der Falle, solange sich die Bücherjäger hier vorne in der Stube herumtrieben. Außerdem sträubte sich alles in ihm dagegen, sich von der Falltür zu entfernen, von dem geheimen Tunnel, wo vielleicht Kronus saß und auf seine Hilfe wartete. Bewusstlos oder sogar schon im Sterben – aber nein, das durfte nicht sein!
    Während diese Gedanken durch seinen Kopf wirbelten und die Schritte draußen immer näher kamen, nahm Amos in seinen Augenwinkeln einen goldenen Schimmer wahr. Von dem Regal vor der linken Stubenwand war nur der wuchtige Sockel stehen geblieben und aus der Ritze darunter, einem fingerbreiten Spalt über dem Dielenboden, glänzte es golden hervor.
    Der Mistelzweig.
    Amos sprang auf und mit einem Satz über das umgestürzte Pult hinweg. Vor dem Regalsockel warf er sich bäuchlings zu Boden. Mit der flachen Hand kam er gerade so bis zu den Knöcheln unter dem Sockel, und er spürte die vergoldete Mistel auch bereits unter seinen Fingerspitzen, aber er bekam sie einfach nicht zu fassen.
    Der Mann im Hof war mittlerweile so nahe, dass Amos das Stampfen seiner Schritte im matschigen Boden und seinen keuchenden Atem hörte. Es klang wie von einem Hund, der mit heraushängender Zunge herbeigejagt kam, und nun wusste Amos auch, wer der Mann da draußen war –

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