Opus 01 - Das verbotene Buch
es musste Skythis sein, der wölfisch wirkende Mann mit dem grauen Antlitz, der bellenden Stimme, den schauerlich schaufelartigen Händen.
Verzweifelt stieß Amos seine Finger tiefer unter den Sockel – es tat widerlich weh, denn seine Knöchel waren ohnehin schon blutig aufgeschürft, aber tausendmal stärker als der Schmerz war sein Triumphgefühl: Er bekam den Mistelzweig zu fassen, riss seine Hand aus der Ritze hervor und warf sich gleichzeitig herum. Von der offenen Seite her kroch er unter das umgestürzte Pult und versuchte, seinen Atem zu beruhigen: Eben trat Skythis die Überreste der Haustür ein und war im nächsten Moment in der Stube.
So leise wie er konnte, kroch Amos tiefer in die Bücherhütte hinein. Die Pultplatte gab ihm Deckung – jedenfalls solange der Bücherjäger das umgestürzte Möbel nicht von der offenen Rückseite aus in Augenschein nahm. Außerdem befand sich der elfenbeinerne Totenkopf dort vorn auf der Pultplatte, und Amos hielt den vergoldeten Mistelzweig mit seinen Zähnen fest, während er auf Knien und Händen zollweise vorwärtskroch.
Als er ganz vorn bei der Pultplatte war, hielt er die Luft an und lauschte. Skythis lief in der Stube umher und sein Atem ging so rau, als ob er während des Luftholens leise Verwünschungen murmelte. Zwischen der Pultplatte und den Seitenwänden gab es links und rechts einen schmalen Spalt, der auf halber Höhe begann und sich nach unten zu verbreiterte. Amos senkte seinen Kopf, sotief es ging, und spähte rechter Hand durch den Spalt. Der Bücherjäger stand im vollen Schein der Mittagssonne, die vom Hof her durch das Türloch fiel. Er trug schlammbespritzte Stiefel und graue Hosen, darüber ein ebenso staubgraues Gewand. Was sich oberhalb seiner Ellbogen befand, konnte Amos nicht erkennen. In der rechten Hand hielt der Mann einen Dolch mit kurzer, scharf gezackter Klinge. Im Gürtel trug er außerdem ein Kurzschwert und sogar eine Streitaxt, deren gezähnte Hackseite im Sonnenlicht schimmerte.
Rau atmete der Bücherjäger ein und aus und murmelte dabei heisere Verwünschungen, doch zu verstehen war nichts.
In Amos’ Kehle saß ein Schrei, und er spürte überdeutlich – lange könnte er den Schrei nicht mehr zurückhalten. Wenn Skythis noch viel länger dort stehen bliebe, keine drei Fuß vor ihm zwischen verkohlten Büchern und rußigen Regaltrümmern, dann würde ihm der Schrei aus der Kehle fahren und alles wäre vorbei.
Die Sekunden verrannen. Unbeweglich stand der Mann da, und Amos hörte ihn schnüffeln wie einen Hund, der Witterung aufnimmt. Da endlich, als er schon glaubte, dass er den Schrei keinen halben Herzschlag länger zurückhalten könnte – da spie der Bücherjäger aus, wandte sich auf dem Absatz um und war im nächsten Moment wieder aus der Tür. Amos hörte seine schnellen Schritte draußen im weichen Untergrund des Hofs, und er beschwor sich zu warten, bis der Unterzensor vollends außer Hörweite war.
Aber länger als ein paar Augenblicke hielt er es nicht mehr aus – dann kroch er rückwärts unter dem riesenhaften Buch hervor, war mit zwei hastigen Sprüngen vorn beim Totenkopf und stieß ihm den Mistelzweig so unbeherrscht ins Augenloch, dass der empfindliche Mechanismus knirschte.
Gütiger Gott, wenn ihm jetzt auch noch der Schlüssel im Schloss abbrach!
So behutsam, wie seine zitternde Hand es erlaubte, drehte er den Mistelzweig um. Unter dem Bücherdach begann es grässlichzu quietschen und zu kreischen und Amos blieb abermals fast das Herz stehen. Doch im nächsten Moment hatte er begriffen: Das Pult war vornüber umgestürzt und so befand sich die Bodenplatte nun unter dem Bücherdach. Während er aufs Neue um das Möbel herumlief und durch die rückwärtige Öffnung kroch, wurde ihm blitzartig klar, dass Kronus wohl auch dies alles mit Vorbedacht so eingerichtet hatte: Es war gewiss kein Zufall, dass das Pult gerade so umgestürzt war, dass die Luke im Boden den Blicken verborgen blieb, selbst wenn sie geöffnet war.
Mit den Füßen voran ließ sich Amos hinabgleiten. Die bewegliche Bodenplatte befand sich noch auf ihrer gemächlichen Fahrt in die Tiefe und ohne das zermürbende Kreischen des eisernen Mechanismus hätte er den Moment wohl sogar genossen: Er hatte den Bücherjäger überlistet, und vor allem aber hatte er erraten, was Kronus von ihm erwartete, und diesen ersten Teil seiner Aufgabe erfüllt.
Dann war er unten angekommen und das Kreischen erstarb mit einem Schlag. Und in der
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