Opus 01 - Das verbotene Buch
nun steil abfallenden Pfad neben dem tosenden Gründleinsbach entlang. Im Laufen lauschte er in sich hinein, und da fühlte er noch einmal, wie Kronus ihn flehentlich ermahnte: Eile dich, Amos, und sei auf der Hut!
Dann verblasste sein Lichtquell mit einem letzten Flackern und Beben und nur einen halben Herzschlag später erlosch auch der goldene Strahl.
Ich will alles tun, was Ihr von mir verlangt, dachte Amos. Nur, bitte, Herr – lasst mich nicht allein!
Doch so weit er sein Herz auch öffnete, so verzweifelt er in sich hineinlauschte und -spähte, sein eigener magischer Lichtquellwar dort nun der einzige leuchtende Punkt weit und breit.
Ich bin allein, dachte er wieder, ganz und gar auf mich allein gestellt. Da lief er bereits über den Hof, der von Tritten und Wagenspuren förmlich durchpflügt war, auf die Ruine des Haupthauses zu. Der Rauch biss ihm in die Augen. Von den übereinandergestürzten Dach- und Mauerbalken ging ein unregelmäßiges Knacken aus wie von einem zerstörten Uhrwerk. Und sein Herz wollte sich einfach nicht beruhigen, im Gegenteil: Es schlug nun so heftig in seiner Brust, dass ihm das Blut in den Ohren rauschte.
Irgendwo hier im Mühlhof musste jemand auf der Lauer liegen – Amos spürte es ganz deutlich. Der Inquisitor und seine Purpurkrieger? Nein, so fühlte es sich nicht an. Eher nach jenem mageren Burschen – dem Lichtfresser, der dämonischen Kreatur aus dem Eisenwagen, die offenbar zu dem Mann mit der bellenden Stimme gehörte, dem Unterzensor Skythis.
Die Bücherjäger also?, dachte Amos, während er über Balken und Mauerbrocken vor dem einstigen Eingang zum Haupthaus kletterte. Von der Haustür hatten die Flammen nur einige verkohlte Bretter übrig gelassen, die kreuz und quer im rußgeschwärzten Rahmen hingen. Behutsam, um das wacklige Gebilde nicht gänzlich zum Einsturz zu bringen, schlängelte sich Amos durch eine Bresche im Türholz und trat in den Raum, der ein halbes Leben lang Kronus’ Lese- und Schreibstube gewesen war.
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D
ie vordere Stube war ein Chaos
aus qualmenden Bücherresten und verkohlten Schriftrollen, aus umgestürzten Regalen und den Überresten der zusammengebrochenen Stiege, die einmal ins Dachgeschoss hochgeführt hatte. Für einen langen Moment stand Amos einfach nur da und nahm den grässlichen Anblickin sich auf. Von der Tür zum hinteren Zimmer war nur ein einziges Brett übrig geblieben, das wie ein Gehenkter vom oberen Scharnier herabhing. Die Bücherschränke dahinter waren umgeworfen, zu Trümmern zerhackt worden, und was der Zerstörungswut der Bücherjäger widerstanden hatte, war zuletzt von den Flammen zerfressen worden.
Aber Kronus hatte vorausgesehen, dass genau das eines Tages geschehen würde – dass die Bücherjäger kommen und seine Bibliothek zerstören würden. Es war ein seltsam tröstlicher Gedanke für Amos, dass der alte Mann von seinen Widersachern nicht einfach überrascht worden war. Er hatte sie seit Langem erwartet, ja er selbst hatte sie auf seine Spur gelenkt, als er eine Abschrift des
Buchs der Geister
zum Reichszensor nach Nürnberg geschickt hatte. Nur warum Kronus das gemacht hatte, verstand Amos weniger denn je.
Und noch sehr viel weniger begriff er, was der alte Mann gerade jetzt von ihm erwartete. Die Purpurkrieger und Bücherjäger hatten stundenlang Zeit gehabt, das Gehöft zu durchwühlen. Falls Kronus das Original des
Buchs der Geister
hier irgendwo versteckt hatte, so mussten sie es auch gefunden haben. Und falls es ihnen tatsächlich entgangen war, so musste es wie alle anderen Schriftwerke von den Flammen vernichtet worden sein.
Übermächtige Gegner hatte der alte Mann herausgefordert, sagte sich Amos – und vielleicht musste er zuletzt doch erkennen, dass es der größte Fehler seines Lebens war. Und möglicherweise auch sein letzter – falls nämlich der Inquisitor auch ihn selbst hier vorgefunden hatte.
Ein Frösteln überlief Amos. Jenes Beben und Flackern, das er vorhin in seinem Innern beobachtet hatte, das Erlöschen des goldenen Lichtstrahls und seines vorher so mächtigen Quells – was konnte es anderes bedeuten, als dass Kronus von Cellari und den Purpurkriegern gefasst worden war? Mit seiner allerletzten Kraft hatte der alte Mann ihn, Amos, herbeigerufen – und danach hatte er sein Bewusstsein verloren, wenn nicht sogar sein Leben.
So und nicht anders musste sich alles abgespielt haben, dachte Amos. Verzweiflung wollte in ihm aufstiegen, doch er kämpfte sie gleich wieder nieder.
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