Opus 01 - Das verbotene Buch
an den Ecken zerknickt. Aber Hauptsache, er hatte das Buch zurückerobert – und jetzt nichts wie weg. Bevor auch Skythis noch herbeigerannt kam, angelockt von dem Hilferuf des mageren Kerls.
Er sprang auf, raffte Bündel und Seil zusammen und warf sich alles über die Schulter. Schon hatte sich auch der Bursche wieder aufgerappelt und setzte mit heuschreckenartigen Sprüngen hinter ihm her. Amos nahm seine Beine in die Hand. Doch schon nach wenigen Schritten hörte er auf zu rennen und wandte sich verwundert um.
Der Bursche hatte einen Schrei ausgestoßen und war zu Boden gegangen, als ob er gegen eine Faust gelaufen wäre. Bäuchlings lag er da, das eine Bein lang gestreckt, das andere angewinkelt wie zum Sprung. Vollkommen verblüfft sah Amos, dass der Bursche mit seinem linken Fußknöchel an dem Baum festgebunden war, unter dem er vorhin gekauert hatte.
Wie ein Hund, dachte er, gerade als drüben Skythis über die Brücke gepoltert kam – und da rannte Amos los,
Das Buch der Geister
in der Hand, durch Buschwerk und Unterholz tiefer und tiefer ins Dickicht hinein, so schnell ihn seine Füße trugen.
Kapitel VI
1
A
mos lief und stolperte
und fing sich und rannte weiter. Er keuchte und der Schweiß spritzte ihm nur so aus den Haaren, und der Buchumschlag in seiner Hand fühlte sich so warm an, als ob es das Fell eines lebendigen schwarzen Kaninchens wäre. Ab und an musste er seinen Schritt verlangsamen, weil er keine Luft mehr hatte oder weil das Dickicht ganz und gar undurchdringlich wurde. Aber kaum hatte sich sein Atem ein wenig beruhigt, das Unterholz vor ihm aufgelockert, da beschleunigte er aufs Neue und das Bündel auf seinem Rücken begann wieder zu hüpfen, als ob Kronus höchstselbst ihm bei jedem federnden Schritt auf den Rücken klopfen würde.
Er hatte furchtbare Angst und er liebte es zu laufen und beides zusammen trieb ihn voran in einem tollen Galopp über Stock und Stein, durch Schlucht und Buschwerk, über umgestürzte Baumstämme und Steinbrocken so groß wie Höttsches Schädel.
Nicht an die Toten im Palas denken. Noch weniger an den Bücherjäger – sowie Amos auch nur einen winzigen Moment lang die Augen schloss, sah er Skythis vor sich und seine Streitaxt, die im Schacht emporgewirbelt kam. Nicht daran denken, auch nicht an den mageren Burschen, wie er sich mit einem Knurren auf ihn gestürzt, ihm
Das Buch der Geister
entrissen hatte.
Laufen, nur laufen, Schritt um Schritt und Meile um Meile, schneller und ausdauernder als Skythis und der magere Bursche, die sich an seine Fersen geheftet hatten, um ihn zu erlegen wie einen Hasen – ihn und das in Kaninchenleder gehüllte Buch in seiner Hand.
Düster war es im Wald, selbst am helllichten Tag. Zwischen uralten Bäumen, höher als die Kirchtürme in Nürnberg, und haarsträubend steilen Schluchten lief Amos dahin. Mannshohe Dornenhecken durchzogen die Wildnis, umgestürzte Baumstämme lagen kreuz und quer verstreut. Sumpffelder lockten den Wanderer mit dottergelben Blumeninseln, unter denen das Verhängnisgluckste. Dann wieder folgten Haine mit blühenden Disteln, die alles, was sich zu ihnen hineinwagte, mit messerscharfen Blättern zerfleischten. Oder Büsche voll leuchtend roter Beeren, die so saftig wie Kirschen aussahen und so köstlich wie Himbeeren dufteten – doch wer sich von ihnen verlocken ließ und auch nur eine einzige Beere zwischen Gaumen und Zunge zerdrückte, um den war es geschehen. Wie ein Veitstänzer, an allen Gliedern zuckend, Schaum vor den Lippen, die Augen verdreht, dass nur noch das Weiße zu sehen war – so verlebte der Unselige seine letzten irren Augenblicke, von dem Gift in seinem Innern im Kreis herumgerissen, bis er unter krampfhaften Zuckungen zu Boden fiel und seinen allerletzten Schnaufer tat. So hatte es ihm der Vater jedenfalls einst erklärt, mit vielen schauerlichen Einzelheiten. Und die kamen Amos nun allesamt wieder in den Sinn, während er an den sich hoch auftürmenden Büschen voller Todesbeeren entlanglief.
Vielerlei tödliche Gefahren lauerten in der Wildnis, doch unwegsam war das Dickicht nur für den ungeübten Blick. Meist folgte Amos einem jener winzig schmalen Trampelwege, die wie ein kaum sichtbares Netz die Wälder zwischen Kirchenlamitz und Wunsiedel durchzogen. Auf diesen Pfaden schnürten Füchse und Luchse durchs Dickicht, wilde Hunde und zuweilen auch Wölfe. Schon als kleiner Junge von sechs, sieben Jahren war Amos mit seinem Vater oftmals durch die Wälder gezogen.
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