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Opus 01 - Das verbotene Buch

Titel: Opus 01 - Das verbotene Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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Ferdinand von Hohenstein hatte ihn gelehrt, die Fährten von Bär und Wolf, von Katze und Luchs zu unterscheiden und auch die Spuren von Menschen im Dickicht zu erkennen, aber dieses Letztere war leicht: »Nur Wildeber hinterlassen noch wüstere Schneisen«, lautete eine der väterlichen Lektionen. Eine andere: »Die Tiere haben genauso Seelen wie wir – was immer die Priester dagegen predigen mögen.« Wenn der Vater zu Hause derlei Weisheiten von sich gab, wurde die Mutter aber meist unruhig und beschwor ihn, die Kinder mit seinem »Heidenzauber« zu verschonen.
    Seltsam, wie viele solcher Erinnerungen in Amos aufstiegen, während er mühelos dahintrabte. Wie Luftblasen in frischemWasser, so perlten die Szeneen und Bilder aus ferner Vergangenheit in ihm empor. Sein Atem ging nun ganz gleichmäßig. Wie von selbst fanden seine Füße immer wieder einen sicheren Tritt. Obwohl er letzte Nacht keinen Augenblick geschlafen hatte, fühlte er sich frisch und stark.
    Im Laufen und im Klettern war er geübt. Solange er in den Wäldern blieb, war er vor seinen Jägern klar im Vorteil – dem Unterzensor Skythis, der zwar kräftig und noch keineswegs alt, aber offenbar weit eher in der Stadt zu Hause war. Und vor seinem Gehilfen, der krankhaft mager war und überdies einen Fuß nachzog. In dessen Innerem allerdings auch eine grässliche Bestie hauste – ein Lichtfresser, ein Dämon mit tückisch gelben Augen.
    Nicht daran denken. Nicht in sein Inneres hineinlauschen, schon gar nicht sein Herz öffnen, dann konnte ihn der Lichtfresser nicht finden. Laufen, immer nur laufen, dann konnten die Bücherjäger ihn niemals einholen.
    Trotzdem machte sich Amos große Sorgen. Seit etlichen Stunden rannte er nun durch den Wald, immer ungefähr in Richtung Süden, auf Wunsiedel zu. Dorthin zog es ihn mit solcher Macht, als ob er mit Stricken vorangezerrt würde – zu Klara, dem grünäugigen Mädchen, dessen Amulett er um seinen Hals trug. Alles in ihm drängte danach, geradewegs zu ihr zu laufen. Klara in ihrem Waisenhaus aufzusuchen, ihr von Odas Tod zu berichten, sie zu fragen, wie sie an das Amulett gekommen war – das Silberdreieck mit dem Augenstein darin, das aussah, als wäre es aus dem geheimen Wappen der Edlen von Hohenstein herausgeschnitten. Sie konnten Verbündete werden – dann stünde er auch nicht mehr ganz allein gegen ein Heer von Bücherjägern und Kirchenkriegern.
    Aber er durfte nicht zu ihr gehen. Bestimmt hatte Skythis unterdessen den markgräflichen Amtmann Conntz Rabensteiner alarmiert. Wenn Amos sich auf der Landstraße, innerhalb der Stadtmauern von Wunsiedel oder gar in Kirchenlamitz blicken ließe, würden sie ihn augenblicklich ergreifen und in den Kerkerwerfen. Dort würden die Bücherjäger ihn übernehmen und in ihrem Eisenwagen nach Nürnberg bringen, und wenn er erst einmal dort eingekerkert wäre, würde er das Tageslicht niemals wiedersehen. Und außerdem, viel schlimmer noch:
Das Buch der Geister
würde in ihre Hände fallen – in die schauerlich plumpen Schaufelhände des wölfischen Unterzensors, der es zerreißen und zerfetzen würde, wie ein wirklicher Wolf ein lebendiges Kaninchen zerfleischt.
    Nicht daran denken. Nichts dergleichen würde geschehen. Er würde nicht nach Wunsiedel gehen – noch nicht jedenfalls. Vorher musste er tun, was Kronus ihm aufgetragen hatte: Du wirst wissen, wem es zugedacht ist . Das hieß: Er musste einen sicheren Ort finden, so schnell wie möglich, denn nur in einem solchen Unterschlupf konnte er es wagen, die zweite Geschichte aus dem
Buch der Geister
zu lesen –
Von der Frau, die im Brunnen wohnte
. Und erst wenn er sie gelesen und gänzlich verinnerlicht hätte, würde in ihm die Gabe der Gedankenmagie erwachen – und dann erst könnte er in Erfahrung bringen, wem er
Das Buch der Geister
übergeben sollte. Wo das unersetzlich kostbare Manuskript in Sicherheit wäre – und er selbst dazu.
    Amos lief und lief und überlegte dabei unaufhörlich, wie er diese Aufgabe lösen könnte. Je länger er darüber nachdachte, desto schwieriger und gefährlicher schien sie ihm. Er bräuchte eine wirklich sichere Zufluchtsstätte, einen Ort, an dem ihn niemand finden und wo ihn die Bücherjäger selbst dann nicht überwältigen könnten, wenn sie ihn gegen jede Wahrscheinlichkeit doch aufgespürt hätten. Zumindest einen Tag lang müsste er dort vollkommen in Sicherheit sein: Als er die Geschichte
Vom Ritter, der seine Liebste hinter dem Spiegel fand
zum ersten Mal

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