Opus 01 - Das verbotene Buch
gelesen hatte, war er für viele Stunden buchstäblich aus dieser Welt und Wirklichkeit gefallen – er war ganz und gar in den jungen Ritter Laurentius Answer verwandelt gewesen, hatte nur noch in dessen Welt gelebt und einzig noch erblickt und empfunden, was Laurenz gerade sah und fühlte. Und möglicherweise würde er, wenner die Geschichte
Von der Frau, die im Brunnen wohnte
lesen würde, noch für sehr viel länger aus der hiesigen Welt hinausgesogen. Immerhin ging es nun darum, die nächsthöhere Stufe zu meistern, und da lag es doch auf der Hand, dass man dafür auch länger brauchte – vielleicht doppelt so lang wie für die erste Stufe und das wäre dann ein ganzer Tag.
Ein ganzer, endlos langer Tag, vom Morgengrauen bis zum Abendrot: Wenn er es sich auch nur flüchtig vorstellte, stieg wieder die Panik in ihm hoch, das Schwindeln und Sausen unbeherrschbarer Angst. Zehn Stunden oder mehr, die er im Zustand magischen Lesefiebers verbringen würde, außerstande, irgendetwas wahrzunehmen, das in der hiesigen Welt und Wirklichkeit gerade geschah. Wenn die Bücherjäger unterdessen sein Versteck fänden, wäre er wehrlos wie ein auf offener Flur schlummerndes Reh: Er würde nicht einmal bemerken, dass sie sich näherten – erst in dem Moment, wenn sie ihm das Buch aus den Händen nähmen, würde er aus jener anderen Welt zurückgerissen und erkennen, dass er übertölpelt worden war. Das aber durfte auf gar keinen Fall geschehen.
Amos rannte und rannte und grübelte dabei mit wachsender Verzweiflung, wo er sich nur verkriechen könnte, um für einen Tag in Sicherheit zu sein. Eine innere Stimme flüsterte ihm zu, dass er doch bloß zu Klara gehen müsste und sie im Wunsiedeler Waisenhaus bestimmt einen solchen Winkel wüsste, im Keller oder auf dem Dachspeicher, wo er mehr oder minder unauffindbar wäre. Aber die Stimme hatte unrecht, so gerne er ihr glauben würde: Ehe er in Wunsiedel auch nur Klaras Hospiz gefunden hätte, würden sich die Hände eines Stadtwächters auf seine Schultern legen.
Überaus verlockend war auch die Idee, einfach nach Hause zu gehen – in das Tal unweit von Wunsiedel, wo einst sein Vaterhaus gestanden hatte, ehe es von Höttsche und seinen Männern niedergebrannt worden war. Aber auch die Ruinen und Trümmer seiner Kindheit würden noch auf ihn warten müssen. Allerdingsahnte er bereits, dass dort irgendetwas verborgen war, das ihm helfen würde, den Wirrwarr aus Rätseln und Geheimnissen zu lösen. Doch sehr viel dringlicher war jetzt, dass er eine wirklich sichere Zufluchtsstätte fand. Für einen Tag oder mehr. Um die Gabe der Gedankenmagie in sich zu erwecken, damit er auf diese Weise herausbekommen konnte, wohin er
Das Buch der Geister
bringen sollte.
Allmählich wurden ihm nun auch die Beine schwer. Immer öfter musste er an die Wegzehrung denken, die Kronus ihm eingepackt hatte. Außerdem hatte er seit Stunden keinen Tropfen mehr getrunken und fühlte sich fast schon so ausgedörrt wie die Räucherforelle in seinem Bündel.
Der Fisch ließ ihn wieder an jenes Frühstück mit Kronus denken: »Die Bücherjäger sind wie tote Räucherfische«, hatte der alte Mann gesagt. »Auch wenn du sie in den Bach zurückwirfst, können sie niemals mehr darin schwimmen.« Amos musste grinsen und für kurze Zeit verflogen in ihm alle Angst und Sorgen. Er hatte doch überhaupt keinen Grund, sich derart vor dem Wölfischen und seinem hinkenden Gehilfen zu fürchten. Er konnte viel schneller und ausdauernder als seine Verfolger laufen – wie wollten sie ihn denn hier draußen aufspüren?
Flüchtig kam ihm jener Mann von wahrhaft furchterregendem Aussehen in den Sinn, der den Eisenwagen kutschiert hatte. Er gehörte offenbar auch zu den Bücherjägern, aber allem Anschein nach war er bei dieser Verfolgungsjagd nicht dabei. Oder konnte es sein, dass Skythis ihn nach Wunsiedel gesandt hatte, damit er Amos von dort aus wie bei einer Treibjagd den Weg abschnitt? Mit seinem Flickenpanzer und der kraterförmigen Wunde unter der Schläfe hatte dieser Kutscher fast wie ein Ungeheuer aus Sagen oder Albträumen ausgesehen – eine jener gepanzerten Riesenechsen, die Kronus ihm einmal in der Schedel’schen Weltchronik gezeigt hatte, jenem gewaltigen Druckwerk, das die vollständige Geschichte der Welt darstellte und unzählige Illustrationen enthielt.
Aber dass er auf diesen Mann im Flickenpanzer nun geradewegs zurannte – das konnte ja nicht sein. Woher hätten die Bücherjäger schließlich
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