Opus 01 - Das verbotene Buch
Stirn und Wangen kühlte, hatte er sich mit dem Gedanken aufgemuntert, dass es für ihn überhaupt keinen besseren Ort als das Felsenlabyrinth geben konnte. Mit seinen aus tausend Ritzen hervorsprudelnden und -rinnenden Gewässern gehörte es beinahe schon jener Unterwasserwelt an, in die Laurentius in der zweiten Geschichte aus dem
Buch der Geister
dochoffenbar hinabsteigen sollte – hinunter zu der
Frau, die im Brunnen wohnte
.
Im ersten Morgenlicht türmte sich schließlich das Felslabyrinth vor ihm auf. Amos nahm seinen Knotenstrick von der Schulter. Ein leichter Dunst lag über dem gesamten Felsgewürfel, aber das mochte auch von der Müdigkeit kommen, die ihn wie mit Nebelschwaden umhüllte.
Aus dem Wunsiedeler Tal wehte eben matt der Stundenschlag empor, und wie er es von Burg Hohenstein gewöhnt war, zählte er im Stillen die Glockentöne mit: halb vier. Klara schlief gewiss noch tief und fest. Einen Augenblick lang stellte er sich vor, wie sie in ihrem Bett lag, die Lippen sanft geschwungen, das weizenblonde Haar schlafzerzaust. Von ihren Augen ging ein grüner Schimmer aus, auch wenn ihre Lider geschlossen waren. Zumindest bildete er sich das ein.
Er knotete eine Schlaufe in das Ende seines Stricks und legte den Kopf zurück, um eine geeignete Felszacke ausfindig zu machen. Seine Schuhe hatte er ausgezogen und in das Bündel gestopft, die Hosenbeine bis unter die Knie aufgekrempelt. Genauso hatte es ihm der Vater damals vorgemacht, als er mit ihm auf dem Rücken an den Felsen emporgeklettert war. Ein Knabe von sechs oder sieben Jahren war Amos damals gewesen, an die Schultern des Vaters gebunden. Vor Sorge, dass der Vater abstürzen könnte, hatte er sich mit schweißnassen Händen an ihm festgeklammert und kaum zu atmen gewagt. Aber leichtfüßig, als ob es für ihn keine Schwerkraft gäbe, war Ferdinand von Hohenstein an dem nahezu senkrechten Felsen emporgelaufen und hatte sich oben in die Spalte zwischen zwei gewaltigen Steinbrocken geschwungen. Und genau diese Spalte fasste Amos nun ins Auge, nachdem er das Seil an einem Felshorn knapp darunter festgezurrt hatte.
Wie seltsam, dachte er, dass ihm dies alles jetzt wieder in den Sinn kam. Aber vielleicht war auch gar nichts Sonderbares dabei: »Unser Geist ist wie ein Netz aus Gewässern«, so lautete eine weitere väterliche Weisheit. »Die Ströme der Erinnerung sind darinmit dem Fluss der Gedanken verknüpft – der allerdings ist bei manch einem kaum mehr als ein kümmerliches Rinnsal.«
Amos umfasste das Seil mit beiden Händen und lief an der Felswand hoch, wie es ihm der Vater vor bald zehn Jahren vorgemacht hatte. Oben schwang er sich in die Spalte, knüpfte das Seil von dem Felsvorsprung los und warf es sich wieder über die Schulter. Die Spalte war gerade so breit, dass er darin entlanglaufen konnte. Sie führte steil bergan und zu beiden Seiten türmten sich die Felsbrocken zu schwindelerregender Höhe übereinander. Eiskaltes Wasser strömte ihm entgegen und Wasser rann und gluckste aus unzähligen Löchern und Rinnen links und rechts über das Gestein. Der Boden unter seinen bloßen Füßen fühlte sich glitschig an. Auch die Wände waren vom Wasser glatt gewaschen und boten den Händen nur wenig Halt.
Nach etlichen Dutzend Schritten wurde der Weg ebener und führte dann einige Zeit mit wilden Krümmungen zwischen Felsbrocken hindurch. Wasser stürzte ihm nun von allen Seiten entgegen, ergoss sich über Felswände, sprudelte aus Ritzen und Rinnen hervor, floss ihm gurgelnd und schäumend auf seinem Pfad entgegen. Es war beinahe so, als ob er durch den tosenden Strom aus der ersten Geschichte im
Buch der Geister
waten würde – nur dass die Strömung hier glücklicherweise weniger gewaltig war als bei dem donnernden Fluss, zu dem Laurentius Answer zuletzt hinabgestiegen war.
Das talwärts stürzende Wasser hatte Tunnel in die Felsen gewaschen und an manchen Stellen musste Amos seinen Kopf einziehen oder sogar auf allen vieren durch die Löcher im Gestein hindurchkriechen. Längst war er von Kopf bis Fuß durchnässt, und das Wasser toste nun so laut, dass außer seinem Brausen und Gurgeln nichts mehr zu hören war. Ab und an wandte sich Amos um, aber da war weit und breit niemand außer ihm selbst.
Viele Gelehrte, hatte der Vater ihm damals erzählt, seien der Ansicht, dass das Felslabyrinth in grauer Vorzeit durch ein Erdbeben entstanden sei. Er aber wisse es besser, auch wenn er natürlichnichts beweisen könne: Der ganze
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