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Opus 01 - Das verbotene Buch

Titel: Opus 01 - Das verbotene Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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Minuten, um das Seil wieder zu befreien. Vielleicht hätte ja auch diese Felszacke sein Gewicht tragen können, aber der eiserne Haken kam ihm weit vertrauenerweckender vor. Doch als es ihm endlich gelungen war, die Schlinge daran festzuzurren, war aus dem Wind heulender Sturm geworden und aus den Wolken über ihm fielen bereits Tropfen so groß wie Taubeneier.
    Und trotzdem musste er zum Turm hinüber, ihm blieb überhaupt keine Wahl. Hier oben auf dem Felsplateau könnte er sich im Unwetter ohnehin nicht lange halten. Weiter hinten wuchsen ein paar kümmerliche Bäume in den Steinritzen, aber ansonsten gab es hier nur nackten, von Wind und Wetter glatt geschmirgelten Fels. Bald schon würden die Fluten das Plateau überspülen, sich von allen Seiten in die Schlucht ergießen und ihn mit sich reißen – wenn er sich nicht schleunigst in Sicherheit brachte. Aber genau das würde er jetzt tun.
    Er kauerte sich auf den Felsgrat und prüfte ein letztes Mal, ob sein Seil an beiden Enden sicher verknüpft war. Der Sturm schob und brüllte, zerrte und heulte, aber Amos beugte sich weit hinab, umfasste mit fester Hand seinen Strick und schwang sich ins schwindelndeNichts hinaus. So wie er nun am Seil hing und sich Faust um Faust voranhangelte – genauso hatte er sich am Felsgrat unter Burg Hohenstein entlangziehen wollen, unter seinen Füßen nichts als zweihundert Fuß dampfend heiße Luft. Dagegen war das hier doch fast ein Kinderspiel, denn das Seil bot viel besseren Halt und die Schlucht unter seinen Füßen war diesmal nur fünfzehn Fuß tief.
    Mehr als genug allerdings, um sich den Hals zu brechen und sämtliche anderen Knochen dazu. Zumal ihm der Regen auf Kopf und Schultern prasselte und der Sturm mal durch die Schlucht heraufheulte, dann wieder talwärts brauste – wie mit Riesenpranken hieben ihm die Böen gegen Brust und Rücken, sodass er mitsamt seinem Seil schauerlich ins Schaukeln geriet. Einmal musste er sogar kurz die Augen schließen, weil es in seinem Innern noch sehr viel ärger schaukelte und er kaum mehr wusste, ob er mit dem Kopf oder den Füßdasen zuunterst an seinem Seil hing. Und beinahe noch schlimmer als das Stoßen und Zerren war das teuflische Geheule des Sturmwinds, doch Amos hangelte sich trotz allem beharrlich voran. In seinen Augenwinkeln sah er, wie der Turm linker Hand zollweise näher heranrückte – ein schlankes Rohr aus hellem Stein, mit einer schmalen Tür gerade oberhalb des Eisenhakens und einigen Fensterscharten hoch droben unter dem zinnengeschmückten Dach. In Schleier aus Regen und Dunst gehüllt, schien der Turm eher am Grund eines Gewässers zu stehen als auf dem höchsten Gipfel weit und breit.
    Schließlich bekam Amos den Eisenhaken mit seiner linken Hand zu fassen und schwang sich auf die Stufe unter der Turmtür. Einige Augenblicke lang blieb er dort zusammengekauert hocken und wartete, bis sich sein Atem ein wenig beruhigt hatte. Der Regen toste auf ihn nieder. Der Sturm fuhr stöhnend um den Turm herum, als ob er das Bauwerk mitsamt der Felssäule in die Schlucht hinabreißen wollte. Doch Amos beugte sich noch einmal tief hinab, löste sein Seil vom Eisenhaken und ließ es über der Schlucht auf- und abschwingen, bis sich auch die Schlinge drüben lockerte und er den Strick zu sich herüberziehen konnte.
    Mit einem Fuß stieß er währenddessen bereits hinter sich – erst behutsam, dann kräftiger, schließlich mit verzweifelter Wucht. Da endlich sprang die Tür auf, und während Blitze den schwarzen Himmel zerrissen und die Stürme brüllten und die Wolken mit Donnerkrachen vollends zerplatzten, kroch Amos mit den Füßen voran in den Turm und warf mit seiner allerletzten Kraft die Tür zu.
    Dämmerlicht umfing ihn. Nur gedämpft drang das Tosen des Unwetters herein. Noch immer auf allen vieren, wandte sich Amos seitwärts um und betrachtete die schmale Wendeltreppe, die sich scheinbar endlos nach oben drehte. Er würde dort hinaufgehen und sich alles ansehen, beschloss er und schlief im selben Moment ein.
    Als er zu sich kam, glaubte er zuerst, er hätte den ganzen Tag verschlafen. Aber das düstere Licht kam von dem Unwetter, das draußen weiterhin tobte. Er schleppte sich die Treppe hoch, ein wenig frischer immerhin, obwohl er kaum mehr als ein, zwei Stunden geschlafen haben konnte. Aber auch der Schlaf musste warten. Um die Geschichte
Von der Frau, die im Brunnen wohnte
zu lesen und sich zuinnerst anzueignen, würde er vielleicht den ganzen restlichen Tag

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