Opus 01 - Das verbotene Buch
wohnte
noch einmal lesen. Denn an die dritte Geschichte,
Vom Felsen, der ein Fenster war
, durfte man sich laut Kronus erst dann heranwagen, wenn man die Gefühls- und Gedankenmagie vollkommen sicher beherrschte.
Wenig später saß Amos wieder im Wagen und zog
Das Buch der Geister
unter seinem Gewand hervor. Vorn auf dem Kutschbock ließ Karol die Peitsche schnalzen und knarrend und schaukelnd setzte sich ihr Gefährt in Bewegung. Amos schob die Plane etwas zur Seite, damit ein wenig Licht in den Wagen hereinfiel, und schlug das Buch zu Anfang der zweiten Geschichte auf. Ehe er zu lesen begann, schaute er noch einmal zum Himmel empor. Doch durch das dicht geflochtene Astgewölbe ließ sich kein Vogel, ja nicht einmal eine Wolke am Himmel erkennen.
»
Laurentius Answer schlang die Zügel um seine Hand und zog seinen Rappen mit sich, weiter am tosenden Strom entlang
.« Bereits bei diesen ersten Worten begann er sich wieder in den jungen Ritter Laurenz zu verwandeln. Die Welt um ihn herum verblasste und zerfiel, und stattdessen war er abermals am donnernden Strom und spürte, wie der Boden unter ihm erzitterte. »
Unaufhörlich trugen die Fluten Gesteinsbrocken so groß wie Kutschkästen mit sich, warfen sie hinaus auf die Böschung und rissen sie, wenn sie zurückgekollert kamen, weiter mit sich fort. Selbst der Felsboden unter seinen Füßen erbebte von diesen furchtbaren Stößen, und Laurentius dachte, wenn er von einem solchen Brocken getroffen würde, wäre es aus mit ihm
.«
5
E
twas legte sich auf seine Schulter
und im ersten Augenblick glaubte er, dass es die Hand der Frau aus dem Brunnen wäre. Ihre vom Bilderschlamm schillernde Hand, mit Laurenz und Lucinda als tanzendem Brautpaar darin – aber als er um sich sah, lag er in Karols Wagen unter der Plane und neben ihm kauerte Klara, ihre Hand auf seiner Haut.
»Das Mädchen vom Brunnenrand«, murmelte er, »und die Liebste, die ich hinter dem Spiegel fand.«
Sie lächelte auf ihn herunter. »Wir sind da.«
Nun erst nahm er wahr, dass ihr Wagen nicht mehr wie seit der Frühe in schaukelnder Bewegung war. Aber in seinen Gedanken war er halb noch bei Laurenz und halb in Nürnberg, wo er Klara damals zum ersten Mal begegnet war.
»Versteh doch«, sagte er, »in der ersten Geschichte findet Laurenz seine Liebste hinter dem Spiegel – und genauso ist es mir ja in Nürnberg mit dir ergangen. Wieso ist mir das nicht längst schon aufgefallen? Damals ist ein Mann vor mir die Straße hinaufgeritten, mit einem spiegelnden Schild, der das Sonnenlichteinfing und mich blendete. Mit einem Sprung waren Ross und Reiter plötzlich weg und da lagst du auf der Straße – hinter dem Spiegel! Und dann bist du auf und davon und ich hinter dir her, und wo habe ich dich wiedergefunden: nicht gerade im Brunnen, aber jedenfalls am Brunnenrand.«
Er schaute zu ihr auf und sann über die Ähnlichkeiten nach. Blinder Zufall? Nie und nimmer, dachte er. Nicht nach dieser Fülle kunstvollster Fügungen, die er seither erlebt hatte. »Wir sind wie Spielfiguren, Klara«, sagte er, noch ein wenig benommen wie jedes Mal, wenn er gerade erst aus Laurenz’ Welt zurückgekehrt war. »Wie Spiegelungen sind wir, aus dem
Buch der Geister
– mir wird schwindlig, wenn ich darüber nachdenke.«
Sie warf sich mit beiden Händen das hellblonde Haar über die Schultern zurück und furchte die Stirn. Aber dabei lächelte sie weiter auf ihn herab und schien zu glauben, dass er seine Worte nicht ganz ernst gemeint hatte. »Dann müsste Karol ja der Flößer sein«, sagte sie, »der Laurenz zur Brunnenfrau gebracht hat. Aber dessen Pferd war ein starker Schimmel – und Karols Gaul ist ein gescheckter Klepper.«
Ein Schimmel? Amos war so entgeistert, dass er in Gedankensprache verfiel, ohne es recht zu bemerken. Das Pferd auf dem unterirdischen Strom hat ein weißes Fell, das schon – aber mit einem Muster feiner schwarzer Linien darauf. Weißt du nicht mehr, Klara? Und weshalb glaubst du, dass es das Pferd des Flößers wäre? Es fährt ja in seinem eigenen Nachen, den es mit seiner Willenskraft steuert – und der Flößer überholt den Nachen nur mit größter Mühe, weil er glaubt, dass ihm das Glück bringen wird .
Verwirrt und ratlos schauten sie einander an. Draußen räusperte sich Karol immer vernehmlicher, und so kletterten sie aus dem Wagen, ohne der sonderbaren Sache weiter nachzugehen. Mutter Sophia, dachte Amos nur rasch noch, muss Klara damals eine frühere Version der zweiten
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