Opus 01 - Das verbotene Buch
Geschichte vorgelesen haben – oder Kronus hat ihr absichtlich eine Fassung geschickt, die in einigen Punkten vom endgültigen Text abweicht. Aber aus welchem Grund?
Er fand zunächst keine Gelegenheit, länger darüber nachzudenken: Sie standen auf einer kleinen Lichtung, die mit Fichten und Buschwerk gesäumt war. Bloß ein schmaler Pfad führte durch eine Bresche im Dickicht hierher, und Amos fragte sich, wie es Karol oder Klara überhaupt geschafft hatten, den Wagen hindurchzusteuern.
Karol war anscheinend bereits mit allen Vorbereitungen fertig. Er trug nun eine derbe Lederweste über seinem einfachen Leinengewand und auf dem Kopf einen wunderlichen schwarzen Hut mit breiter Krempe, der nach oben kegelspitz zulief. In seiner Linken hielt er einen Wanderstecken, der mit kunstvollen Ritzmustern verziert war. »Nur mit einer solchen Kopfbedeckung«, sagte er, als er Amos’ erstaunten Blick bemerkte, »darf man die inneren Bezirke des Hains betreten.«
Die beiden Pferde waren bereits ausgespannt und grasten friedlich auf der Lichtung. »Kommt jetzt«, sagte Karol, »der Teil des Hains, den auch ihr betreten dürft, ist nicht weit von hier. Ihr werdet bald wieder zurück sein.«
Der Puppenspieler ging ihnen voran auf einem Pfad, der sich vor ihm im Dickicht öffnete und unmittelbar hinter ihnen wieder schloss. Oder kam es Amos bloß so vor? Nein, das bildete er sich bestimmt nicht nur ein – wann immer er sich umwandte, sah er hinter ihnen nur ein undurchdringliches Gewucher aus Buschwerk und Bäumen. Und doch war da eben noch ein Pfad gewesen. Aber wie war das möglich? Schließlich befanden sie sich hier nicht in einer Geschichte aus dem
Buch der Geister
– sondern in der wirklichen Welt. Oder etwa nicht?
Lichtfunken und -fäden flimmerten im Gewirr der Äste und Blätter über ihnen. Ab und an malte Karol mit seinem Stecken Zeichen in die Luft – was hatte das nun wieder zu bedeuten? Amos ließ den Mann mit dem seltsamen Kegelhut nicht mehr aus den Augen. Er hätte es nicht beschwören können, aber er gewann mehr und mehr den Eindruck, dass Karol magische Zeichen in die Luft kritzelte.
Bald sieben Uhr abends musste es mittlerweile sein, aber im Dickicht um sie herum wurde es immer heller, je höher sie stiegen. Flirrende Lichter, deren Quellen unbestimmt blieben – mal leuchtete es abendrot über den Wipfeln, dann wieder tanzten grüne und gelbe Funken neben ihnen im Buschwerk. Karol malte abermals einen Schnörkel in die Luft – und im nächsten Augenblick war um sie herum alles vollkommen verwandelt. Kein Fichtendickicht mehr, kein verholztes Gewölbe über ihren Köpfen, überhaupt kein unwegsames Unterholz. Am Saum eines lichten Buchenhains standen sie, der zog sich in sanftem Anstieg bis zur Kuppe empor. Im Abendlicht leuchtete das Blattwerk in zartem Grün, hier und dort durchbrochen von kräftigem Rot. Ein kaum merklicher Wind bewegte das Laub im Geäst der mächtigen Bäume, und es war, als ob die Buchen ihnen mit vielerlei fein geäderten Blätterhänden winkten. In der Luft war ein leises Rauschen, beinahe so, als würde gleichzeitig in vielerlei Schriftwerken geblättert. Als würden Bücher auf- und zugeschlagen, Manuskripte von eifrigen Fingern durchforscht, und aus diesem Brausen der Blätter stieg nun, gerade als sie den Hain betraten, ein Singen und Tremolieren empor – der tausendstimmige Jubelchor, mit dem die Vögel des Waldes allabendlich den Tag beschließen.
Karol ging ihnen weiter voran, dem Gipfel entgegen. Dichtauf folgte ihm Amos und fragte sich wieder und wieder, an welchen sonderbaren Ort der Puppenspieler sie versetzt hatte. Dabei ließ er seine Blicke von einer Buche zur anderen schweifen. Wie lebendige Skulpturen kamen ihm diese uralten Bäume vor, wie ehrwürdige Bildersäulen, die nicht nur durch ihr Rauschen und die Ähnlichkeit der Wörter – Buchen, Blätter – auf wundersame Weise mit den Büchern verwandt schienen. Je aufmerksamer er sie betrachtete, desto klarer sah er, dass jeder einzelne dieser Bäume mit einem Zeichen von einschüchternder Größe und Kunstfertigkeit beschriftet war. Im unaufhörlich wechselnden Spiel von Schatten und Licht leuchteten die Zeichen im grünen und roten Blattwerk immer nur für die Dauer eines Herzschlagsauf, um im nächsten Moment wieder zu erlöschen. Und doch erkannte Amos sie immer deutlicher wieder, je länger er hinter Karol den Hain hinauflief.
Es waren gerade jene Zeichen, die er so häufig auf der Vorderseite von
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