Opus 01 - Das verbotene Buch
aus großen Augen an, und er hoffte, dass sie den Gedanken für sie beide zu Ende führen würde – oder, noch mehr, dass sie es bleiben ließe. Denn schon bei der Vorstellung, wie sie ihren Satz fortsetzen könnte, wurde ihm so schwindlig, als ob der Boden unter ihm sich gleich öffnen und ihn in die Tiefe reißen müsste, wie es Laurenz Answer geschehen war. Doch Klara schien es kaum anders zu ergehen, und so schauten sie einander nur wortlos an, während die Angst in ihren Herzen umherkroch.
Aber wenn es sich so verhält, wie wir beide glauben, fragte er schließlich, wie konnten die Bücherjäger uns dann dorthin folgen?
Klara hob und senkte ihre Schultern. Und gerade in diesem Moment ging neben ihnen die Tür auf und der Zauberer Faust trat zu ihnen heraus.
6
D
er berühmte Magier
trug einen schwarzen Umhang und dazu einen grünen Hut mit Falkenfeder. Der Talar passte eher zu einem Gelehrten, der Hut dagegen zu einem Wandersmann, der sein halbes Leben unter dem offenen Himmel verbrachte. Aber Faust strahlte in verwirrender Mischung auch beides zugleich aus – eine wilde Waldgelehrsamkeit.
Sein Haar war hellbraun und fiel ihm in üppigen Wellen auf Schultern von beeindruckender Breite. Er war vielleicht dreißig Jahre alt und höher gewachsen als jeder andere Mann, dem Amosjemals begegnet war, mit Ausnahme von Höttsche. Aber im Gegensatz zu dem Räuberhauptmann war der Zauberer Faust von schlanker Gestalt, sodass er noch größer wirkte – so wie Türme stets am höchsten in den Himmel aufzuragen scheinen, auch wenn manches andere Bauwerk in ihrer Umgebung die gleiche Höhe aufweist. Doch der Magier hätte auch ein Zwerg mit ein paar kümmerlichen Haarbüscheln auf dem Schädel und trübselig herabhängenden Schultern sein können – durch seine flammend blauen Augen hätte er gleichwohl alle Welt in den Bann geschlagen.
Wie versteinert stand Amos vor ihm und konnte nichts anderes mehr machen, als immerzu in seine Augen sehen. Diese Augen waren wie reines blaues Feuer und zugleich wie Spiegel, in denen sie sich selbst zu vervielfachen schienen. Je länger Amos in Fausts Augen hineinstarrte, desto blendender und brennender wurde ihr Blau und desto mehr von diesen Flammenaugen schauten ihn von überall her gleichzeitig an. Von der Decke, von allen Wänden, sogar vom Boden her. Die Augen starrten und brannten und durchbohrten ihn. Nichts blieb ihnen verborgen, auf der ganzen Welt gab es nicht mehr den allerkleinsten Fleck, den er vor diesen Augen geheim halten könnte – weder in seinem Innern noch irgendwo außerhalb.
Diese Augen flößten ihm ein Entsetzen ein, wie er es niemals vorher empfunden hatte. Eine Angst jenseits aller gewöhnlichen Ängste, ein Grauen, wie wenn man aus dem Schlaf auffährt und mit einem Mal erkennt, dass alles, was man für wirklich gehalten hat, nur ein freundlicher Traum war. Und die Welt, in die hinein man erwacht ist, ist voller Schrecken und ohne Schutz, aber sie allein ist wirklich und wahr.
Amos verlor nicht das Bewusstsein, doch was nun mit ihm geschah, kam albtraumhafter Ohnmacht nur allzu nah. Er vergaß nicht gänzlich, wer und wo er war, aber es verlor jede Bedeutung für ihn. Irgendwo um ihn herum mochte noch immer das Zimmer vor der Tür jenes Hofkaplans sein, aber wenn es ein schimmligesKellerloch vor einem Verlies tief im Boden gewesen wäre, aus dem man nie mehr hervorkriechen konnte, es wäre ihm ebenso recht gewesen. Denn viel wirklicher war in diesem Moment für ihn, was der Zauberer Faust ihn sehen ließ und was er aus tiefster Seele fühlte und miterlebte, obwohl er gleichzeitig in irgendeinem Winkel seiner Persönlichkeit wusste, dass alles nur Spuk war.
Er war von den spiegelnd blauen Augen umschlossen, und in diesen Spiegeln sah er, wie sich die Welt um ihn herum rasend schnell verwandelte. Wolken jagten über den Himmel, Wälder, Dörfer, ganze Städte wurden davongerissen, und alles raste vorwärts, dem fernsten Horizont entgegen, und nur er allein wurde nach rückwärts gedrängt. So als ob ein gewaltiger Sturm alles vor sich herblasen würde und nur eine einzige Gestalt wurde in die Gegenrichtung getrieben, wie verzweifelt sie sich auch sträubte, und dieses einsamste aller Geschöpfe war er.
Nürnberg, Wunsiedel, Kirchenlamitz – alle Städte, die ihm jemals vertraut gewesen waren, wurden zum Horizont hin von ihm fortgewirbelt. Burg Hohenstein jagte an ihm vorüber, danach auch der Gutshof seiner Kindheit, und dann wurde er mit so
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