Opus 01 - Das verbotene Buch
aberwitziger Geschwindigkeit rückwärts fortgerissen, dass alles um ihn herum zu einem nebelfarbenen Brei verschwamm. Und als er endlich wieder festen Boden unter seinen Füßen spürte und seine Umgebung wieder sehen konnte, war um ihn nichts mehr als wildester Wald.
Es war ein Dickicht, so dicht und finster, dass kein Mensch es jemals betreten haben konnte. Man konnte überhaupt nichts Einzelnes unterscheiden, es gab keine Wege oder Pfade, keine Bäume oder Büsche, nicht einmal Felsen – es war alles eine einzige Fratze aus Wildnis und Grausamkeit. In der Luft war ein Knurren und Knirschen und Krachen wie von zerknackenden Knochen und hin und wieder ein Fiepen oder Wimmern, das gleich wieder erstarb. Und plötzlich wurde Amos klar, wohin er durch Fausts Zauberkunst verschlagen worden war – in die uranfänglichste Vorzeit. Und er fürchtete sich sehr, denn er spürte die erbärmlicheAngst der Menschen, die hier, irgendwo in Erdhöhlen verkrochen, lebten.
Dann begann der Boden unter ihm sich wieder zu bewegen, und diesmal ging es vorwärts, abermals rasend schnell. Doch schon nach kurzer Zeit blieb die Welt um ihn herum wieder stehen und neuerlich fand er sich im dichtesten Wald. Er begriff, dass es derselbe Wald wie vorher war, nur um viele Hundert Generationen später. Dort, wo anfangs nur Gestrüpp und Fratzen und Knochen zerknackendes Grauen gewesen waren, befand sich nun ein kleines Dorf aus Lehmhütten, mit Pflanzbeeten und einem runden Platz in der Mitte. Dort kauerten Männer und Frauen in Gruppen beisammen und kleine Kinder und halbwilde Hunde sprangen und tollten umher. Hinter dem Dorf aber gab es eine Felswand mit einer Höhle auf halber Höhe und im Eingang hockte ein Jüngling mit struppigen Haaren, halb nackt, um seine Hüften ein Stück zottiges Bärenfell. Und dieser junge Mann sah ganz genauso aus wie er, Amos von Hohenstein. Dieselben schwarzen Haare, hellen Augen, dieselbe schlaksige Gestalt. Er saß in der Höhle, die Arme auf seinen Schenkeln, die offenen Hände emporgewendet. Seine Augen waren geschlossen, aber er schien still zu lächeln, so als ob er vielerlei sehen könnte, was für die Menschen unten bei den Hütten unsichtbar war. Und Amos verstand, dass dieser Junge, der ganz genau wie er selbst aussah, mit den Geistern sprach.
Der Boden unter ihm raste abermals vorwärts, mit irrwitziger Geschwindigkeit, sodass abermals alles um ihn herum zu Nebelschwaden verschwamm. Und als er wieder sehen konnte, war er in Rogár und ein Mann schritt durch den Hain, gefolgt von einer Schar junger Wächter und Wächterinnen. Dieser Mann war der oberste Magier und Priester des Heiligtums, und er sah so aus, wie Amos in fünfzehn oder zwanzig Jahren aussehen würde. Seine Haare ein wenig lichter, seine Gestalt immer noch schlaksig, ein paar Falten um Augen und Mund. Der Magier hob seine linke Hand, in der er einen mit Ritzzeichen bedeckten Stecken hielt.
Im Sonnenlicht leuchteten die Zeichen im Blattwerk der Buchen, und es waren genau die gleichen wie auf dem Stab des Magiers, nur ins Riesenhafte vergrößert. »
Llóma – fárá – móhagár
«, rief er in melodischem Singsang. »Niemals kehren wir wieder als diejenigen, die wir in einem früheren Leben waren. Denn in jedem Geschöpf mischen sich die Geister auf einzigartige Weise, die sich niemals wiederholt. Doch in einigen Menschengeschlechtern mischen sich gewisse Geister mit besonderer Vorliebe. So sind die großen Magiersippen entstanden, in denen die überlieferten Künste von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden.«
Er schien Amos nun geradewegs anzusehen, über die Abgründe der Zeiten hinweg. Als er zur Seite schaute, folgte Amos seinem Blick und sah ein Gewimmel von Kindern, die dort zwischen den Buchen im Unterholz spielten. Und eines der kleinen Mädchen ähnelte wiederum ihm, wie er selbst als Kind gewesen war, und einer der kleinen Knaben hatte Klaras grüne Augen, ihre Mondhaut und ihr weißblondes Haar. Amos begriff, dass es die beiden waren, die sie später als Wächter in Rogár getroffen hatten, und dann begann der Boden unter ihm wieder zu rasen und alles verwischte sich zu einem nebelhaften Brei. Und als die Welt um ihn herum abermals stillstand, war er zurück im Vorzimmer des Hofkaplans und saß auf einer Erkerbank neben Klara, die ihn mit besorgtem Lächeln ansah.
Ist alles in Ordnung, Amos?
Er fühlte sich schrecklich durcheinander und beklommen, und als er sich im Zimmer umschaute, meinte er überall
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