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Opus 01 - Das verbotene Buch

Titel: Opus 01 - Das verbotene Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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findet, der die Magie doch noch ein wenig spüren kann – was dann?«
    Kronus schnitt seinem Fisch mit einem energischen Messerhieb den Kopf ab. »Das halte ich für ausgeschlossen. Ein guter Zensurbeamter fürchtet und hasst nichts auf der Welt so sehr wie die unwägbare Wirkung, die von Büchern ausgeht. Um herauszufinden, ob ein Buch für Kaiser oder Kirche gefährlich werden kann, gehen Buchzensoren deshalb immer so vor, wie ich es als kleiner Junge einmal bei meinem älteren Bruder gesehen habe.« Er schnitt ein Stück vom Räucherfisch ab und schob es sich mit der Messerspitze in den Mund.
    »Ihr habt einen Bruder, Herr?«, fragte Amos. »Ich dachte, Ihr hättet keine …« Er unterbrach sich. »Verzeiht, es steht mir nicht zu, über Euer Leben zu mutmaßen.«
    »Gerade dir steht es zu, Amos«, entgegnete Kronus. »Ich habe dir doch gesagt, dass du für mich wie ein geistiger Sohn bist – und ich hoffe sehr, dass du in mir ein wenig einen geistigen Vater sehen kannst.«
    Amos senkte den Kopf, um das Glühen seiner Wangen zu verbergen. »Ich bin Euch dankbarer, als ich es jemals ausdrücken könnte«, flüsterte er. »Aber ich bin Eurer nicht wert.«
    Der alte Mann ließ sein Messer, mit dem er sich ein Stück vom Brotlaib hatte abschneiden wollen, achtlos auf den Tisch fallen. »Das musst du schon mich entscheiden lassen, Junge.« Er legte seine faltige Rechte auf Amos’ Hand. »Und ich sehe es nun mal ein wenig anders. Um aber auf meinen Bruder Konrad zurückzukommen«, fügte er hinzu und wandte sich aufs Neue dem Brotlaib zu. »Wir waren damals vielleicht fünf und sieben Jahre alt – seither ist also weit mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen. Und doch sehe ich ihn ganz deutlich vor mir, wie er in unserem Garten damals den Spatz von der Leimrute reißt. Die Falle hatte er eigens aufgestellt, um Vögel für seine Versuche einzufangen. Es interessierte Konrad nämlich sehr, ›wie so ein Leben von innen aussieht‹, wie er das ziemlich altklug ausdrückte. Und so zog er sein Messer aus dem Gürtel und schnitt dem kleinen Spatz die Brust auf.«
    Kronus zuckte mit den Schultern, während er sich eine Scheibe Brot heruntersäbelte. »Ich war völlig außer mir«, fuhr er fort, »als mir klar wurde, dass er den Vogel umgebracht hatte. Noch heute sehe ich die Kreatur in seiner kräftigen, sonnenverbrannten Hand vor mir: die Wunde in dem kleinen Körper, das Blut, das sein Gefieder rot verfärbte. Und ich weiß auch noch, dass ich ein ums andere Mal schrie: ›Was hast du nur getan – er lebt nicht mehr!‹« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Mein Bruder Konrad aber«, brachte er seine Geschichte zu Ende, »war gänzlich ungerührt. Das hat mich nachher noch lange beschäftigt: Er wollte doch eigentlich ›das Leben von innen‹ sehen und stattdessen hat er den armen Vogel getötet. Aber Konrad sah darin überhaupt keinen Widerspruch: Mit seinem Messer schnitt er den toten Körper immer weiter auseinander. Ich erinnere mich noch, wie er ein winziges rotes Klümpchen hervorpulte. ›Schau nur‹, sagte er zu mir, ›das ist das Herz.‹«
    Amos schloss die Augen und antwortete nichts. Er versuchte, nicht an den zermetzelten Vogel zu denken, während er seine Räucherforelle verzehrte. Erst als sie beide sich satt gegessen hatten, kam er noch einmal auf die Geschichte von Konrad und dem Vogel zurück. »Was ist aus Eurem Bruder später geworden?«, fragte er und bemühte sich, seine Worte beiläufig klingen zu lassen.
    »Nun ja, ein Buchzensor glücklicherweise nicht«, antwortete der alte Mann mit einem Lächeln. »Bis vor einigen Jahren hat er an der Universität in Basel als Anatom gelehrt und geforscht.« Amos sah ihn fragend an. »Anatomen«, fügte Kronus hinzu, »das sind gelehrte Männer, die menschliche Leichname aufschneiden, weil sie hoffen, den toten Körpern auf diese Weise das Geheimnis des Lebens entreißen zu können. So ist sich mein Bruder also seit unseren Kindertagen treu geblieben: Sein Leben lang hat er tote Körper seziert. Erkennst du nun, warum ich dir diese Geschichte erzählt habe? Die geheimnisvolle Substanz, die tote Materie in lebendige Kreaturen verwandelt, hat Konrad mit seinem Messer niemals aufgespürt. Und genauso wenig wird jemals ein Buchzensormeinem Geheimnis auf die Spur kommen. Denn das einzige Instrument, das ihnen zur Verfügung steht, ist das Seziermesser des kalten Verstandes – ihre Herzen und Seelen sind, wenn nicht tot, so doch taub und blind.«
    Kronus

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