Opus 01 - Das verbotene Buch
Herr«, begann Amos. »Ich meine – wie ist es möglich, dass ich einen halben Tag lang an dieser Geschichte gelesen habe?«
»Nun, das kommt wohl daher, dass du sie nicht einfach nur mit deinem Verstand gelesen hast, sondern mehr noch mit deinem Herzen und deiner Seele.« Kronus nahm den kleinen Papierstapel auf und kam hinter seinem Pult hervor. Geschäftig ging er ins hintere Zimmer, versorgte die Schriftstücke in einem seiner Schränke und kehrte zu Amos zurück. »Und dabei solltest du esauch belassen«, fuhr er fort. »Wenn du nächste Woche wiederkommst, gebe ich dir die Geschichte noch einmal zu lesen. Aber zwischenzeitlich grüble nicht zu viel darüber nach. Jede der vier Geschichten im
Buch der Geister
ähnelt in gewisser Weise dem Strom, den Laurentius Answer auf der Brücke überquert hat. Und zu dem er schließlich hinabgestiegen ist. Lass diesen ersten Strom sich mit deinem Innersten vermischen, Amos, dann wirst du ihn bald schon befahren können, wann immer du es möchtest. Aber versuche niemals, ihn Wort für Wort und Buchstabe für Buchstabe zu zergliedern, wie es vielleicht schon in wenigen Tagen die Zensurbeamten in Nürnberg machen werden, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.«
Obwohl Kronus weiterhin lächelte, spürte Amos die Anspannung, die den alten Mann bei diesen Worten befiel. Sein eigenes Herz setzte einen halben Schlag lang aus, als ihm klar wurde, was Kronus eben gesagt hatte. »Der Bote heute früh«, fragte er, »er bringt Euer Manuskript zum Buchzensor?«
»Selbstverständlich.« Der Gelehrte nickte nachdrücklich. »Deshalb habe ich mir schließlich die Mühe gemacht, die kostbarsten magischen Weisheiten in Geschichten zu verhüllen, die auch dem argwöhnischen Blick ganz und gar harmlos erscheinen müssen. Die Reichszensurbehörde und meinetwegen auch die kirchliche Inquisition sollen
Das Buch der Geister
ruhig auf das Strengste prüfen. Ich bin sicher, dass sie nichts finden werden, was ein Verbot rechtfertigen könnte – und wenn sie mir erst die offizielle Druckgenehmigung gegeben haben, ist das Spiel für sie verloren.«
Unverkennbar versuchte der alte Mann, seine Worte zuversichtlich klingen zu lassen. Doch Amos spürte ganz deutlich, dass sich Kronus seiner Sache bei Weitem nicht so sicher war, wie er vorgab. Ahnte der Gelehrte womöglich schon, dass es ein Fehler gewesen war, den kaiserlichen Buchzensor so offen herauszufordern? Aber ein solcher Fehler, sagte sich Amos dann wieder, würde Valentin Kronus niemals unterlaufen – schließlich war er einerder klügsten Männer weit und breit. Ein Weiser und Magier, der sein halbes Leben lang darüber nachgedacht hatte, wie er die Bücherjäger überlisten konnte. Und trotzdem: Warum hatte Kronus die Abschrift nicht einfach zu jenem Hebedank geschickt, damit sein Vertrauter in der Kobergerschen Druckerei heimlich einige hundert Exemplare vom
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herstellen ließ? Waren die erst einmal in Umlauf gebracht, dann war – mit Kronus’ eigenen Worten – »der Boden aus dem Eimer geschlagen« und niemand konnte das hinausgeronnene Elixier wieder auffangen.
Amos grübelte noch immer über diesen Rätseln, während er oben in Kronus’ Küchenwinkel ein kaltes Mittagsmahl für sie beide zubereitete – geräucherte Forelle, dunkles Brot und einen Krug köstlich frischen Wassers aus dem Gründleinsbach. Die Forellen hatte er schon letzten Herbst aus dem Bach geangelt, fachkundig im Ofen geräuchert und anschließend in Kronus’ Kamin gehängt.
»Du fragst dich natürlich, ob es nicht doch ein Fehler war, den Bücherjägern das Manuskript zuzuspielen.« Kronus trat zu Amos in die Küche. Er setzte sich neben ihn an den schmalen Tisch unter dem Fenster und griff sogleich zu einem Räucherfisch. »Leser wie du und ich«, sagte er mit einem Lächeln, »tauchen in eine Geschichte ein und schwimmen darin munter umher wie die Forellen draußen im Mühlbach. Die Zensoren dagegen« – er schwenkte den Räucherfisch – »gleichen sehr viel mehr solchen Forellenmumien: Stell dir vor, du wirfst sie in den Bach zurück – glaubst du wirklich, dass sie umherzuschwimmen, nach Nahrung zu suchen, sich im Bodenschlamm einzuwühlen beginnen?«
Amos musste lachen. »Bestimmt nicht.« Er stellte sich vor, wie der tote Fisch auf dem Wasser dahintrieb, mit dem rauchgeschwärzten Bauch nach oben. »Aber was macht Euch so sicher, Herr, dass das für alle Zensurbeamten zutrifft? Wenn Euer Buch dort auch nur einen einzigen Leser
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