Opus 01 - Das verbotene Buch
lächelte noch immer, doch es war nun ein wehmütiges Lächeln. Sein Bruder Konrad war offenbar nicht mehr am Leben, das spürte Amos deutlich, aber er wollte nicht weiter nach den Umständen fragen. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie weh es tat, über den Verlust von nahen Familienangehörigen zu sprechen. Kronus hatte sich über Konrad recht abfällig geäußert und anscheinend hatten sich die Brüder im Verlauf ihres Lebens immer weiter auseinandergelebt und als erwachsene Männer nur noch selten gesehen. Aber trotzdem waren sie Brüder und gemeinsam aufgewachsen und ihr Zerwürfnis machte Valentin Kronus offenbar bis heute zu schaffen.
»Du hast vollkommen recht«, sagte Kronus in seine Gedanken hinein. »Konrad ist tot und auch nur daran zu denken, dass er nicht mehr da ist, schmerzt mich wie eine Wunde, die nie gänzlich zuheilen kann. Seit unseren Jugendjahren haben wir uns höchstens noch drei- oder viermal gesehen – und auch da lagen wir jedes Mal schon nach kürzester Frist wieder überkreuz.«
Stumm begann Amos die Überreste ihres Mittagsmahls zusammenzuräumen. Einmal mehr hatte der alte Mann ganz offensichtlich seine Gedanken gelesen. Aber ihn darauf anzusprechen hatte erprobtermaßen keinen Sinn – Kronus würde nur wieder behaupten, dass er ihm alles vom Gesicht abgeschaut hätte.
»Anstatt dich zu fragen, wie ich deine Gedanken lesen konnte«, sagte da Kronus in einem Tonfall milden Tadels, »solltest du lieber überlegen, wie du es eben angestellt hast, meine Gefühle in allen Einzelheiten zu erspüren. Oder zumindest in all jenen Einzelheiten, an denen ich dich teilhaben lassen wollte.«
Amos blieb der Mund einen Moment lang offen stehen. »
Das Buch der Geister
«, brachte er heraus, »verleiht es mir etwa schon magische Kräfte, Herr?«
Kronus sah ihn prüfend an, dann nickte er mehrfach. »Offenbar geht es schon los. Aber es schenkt dir keine Kräfte, Amos –
Das Buch der Geister
setzt lediglich Gaben frei, die in uns schlummern. Und begabt, wie du bist, solltest du auf einiges gefasst sein.«
5
Z
wei Tage darauf
traf
Das Buch der Geister
in der Kanzlei des Reichszensors zu Nürnberg ein. In dem düsteren Gebäude unweit der Liebfrauenkirche wurde das schmale Büchlein von argwöhnischen Empfangsbeamten gemustert. Die Handschrift im Inneren war sorgsam und gleichmäßig ausgeführt, was einen geübten Schreiber verriet. Ganz anders verhielt es sich mit dem behelfsmäßig zugeschnittenen Lammlederfetzen, der als Buchumschlag viel zu dünn und biegsam war. Den Titel des Werks und seinen Namen hatte der Verfasser offenbar eigenhändig vorn in den Umschlag eingeritzt, die Kerben dann jedoch nicht mit Tinte oder Pflanzenfarbe nachgezogen, weshalb die Lettern nur schwer leserlich waren. Auch die Heftung der Blätter mit fasrigen Fäden kam den Beamten eher unbeholfen vor. Einzelne Seiten begannen sich bereits wieder aus dem Papierblock zu lösen. Nach erstem Augenschein wurde das Manuskript in der Kategorie »Erdichtetes und Erdachtes« registriert.
Währenddessen war im ganzen Frankenland die große Sommerhitze hereingebrochen. Die Luft flimmerte schon am Vormittag in den Nürnberger Gassen, und wie stickig heiß war es erst in der Dachkammer jenes wenig ansehnlichen Bürgerhauses am Saumarkt, wo der junge Schreibergehilfe Hannes Mergelin wohnte. Seine Kammer war nicht viel größer als ein Kleiderkasten oder ein geräumiger Sarg. Obwohl Hannes kaum von mittelgroßer Gestalt war, außerdem so mager, wie es sein Vatersname besagte, vermochte er sich nur mit eingezogenem Kopf und seitwärtsangelegten Armen durch seine Tür hinein- oder hinauszubewegen. Dass er seine Kammer viel lieber verließ als betrat, lag aber nicht allein an der dumpfigen Luft, die er dort für drei Heller pro Monat ein- und wieder ausatmen durfte.
Selbst wenn sich Hannes einmal bei Tageslicht dort aufhielt, nahm er sein schäbiges Strohlager, die wurmstichige Holztruhe und die schrägen Wände, in deren Ritzen und Spalten unaufhörlich Spinnen und Käfer umherkrochen, kaum jemals wahr. Denn in seinen Gedanken verbrachte er jede einzelne Stunde seines Lebens in dem siebenstöckigen Haus mit den hallenden Gängen, erhabenen Treppenaufgängen und vielerlei Amts- und Schreibstuben, in dem er seit nunmehr drei Jahren als Schreibergehilfe arbeitete. Gerade erst war Hannes siebzehn geworden, und andere Hilfsschreiber seines Alters durften froh sein, wenn man ihnen einen Stoß alter Rechnungszettel zum Abschreiben
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