Opus 01 - Das verbotene Buch
anvertraute. Hannes aber besaß unter den höhergestellten Beamten einen Gönner: Ausgerechnet Jan Skythis, ein als besonders unnachsichtig verschriener Unterzensor, hatte Gefallen an ihm gefunden und forderte den jungen Mergelin bevorzugt als Schreiber an.
Vor Jahren schon hatte sich Hannes angewöhnt, seinen linken Fuß ein wenig nachzuziehen. Er selbst fand, dass ihm dieses leichte Hinken einen Anstrich vornehmer Nachdenklichkeit verlieh. Zumindest aber bewirkte es, dass man ihn meist sich selbst überließ. Schon als kleiner Junge war Hannes ein Eigenbrötler gewesen, der lieber seinen Gedanken nachhing, anstatt mit anderen Kindern Fangen zu spielen oder auf Bäumen herumzuklettern. Seit er sich angewöhnt hatte, einen Fuß nachzuziehen, brauchte er sich niemals mehr zu rechtfertigen, wenn er sich vom Tanz- oder Fechtboden und von allem sonstigen Rummel fernhielt, mit dem die Leute sich so die Zeit vertrieben.
Hannes Mergelin hatte an alledem nie Gefallen gefunden. Überschwänglichkeiten jeder Art waren ihm zuwider und seiner Überzeugung nach kam so ziemlich alles Unglück in dieser Welt einzig und allein daher, dass die Menschen sich von ihren Gefühlen,Träumen und Leidenschaften immer wieder aufs Glatteis führen ließen. Doch so etwas konnte ihm nicht passieren, da er niemals zum Zechen ins Wirtshaus lief, niemanden liebte, auch nicht wiedergeliebt werden wollte, sondern immer für sich blieb. Nachts schlief er nur vier Stunden und nahm sich bereits um drei Uhr früh auf seinem Strohbett wieder die Gesetzbücher vor, die ihm der Herr Unterzensor Skythis für private Studien anvertraut hatte: Außer der Bibel, so hatte Skythis ihm erklärt, seien dies die einzigen Schriftwerke, die er gefahrlos lesen könne, ohne Schaden an Geist und Seele befürchten zu müssen. Und selbst die Bibel sei zumindest für ungeübte Leser keineswegs unbedenklich, da sie mit ihren vielerlei Geschichten von kriegerischen Engeln, reuigen Huren und strauchelnden Heiligen die Einbildungskraft ungut anstacheln könne.
So war der Ehrgeiz, zum Verbot möglichst vieler verderblicher Bücher beizutragen, die einzige Leidenschaft, die sich Hannes Mergelin erlaubte. Und als er an jenem Augustmorgen durch die bereits wieder flirrend heißen Gassen zum Amtssitz des Reichszensors lief, da witterte er mit der feinen Nase des geübten Bücherjägers bereits die Beute, die seinem Herrn und ihm selbst heute ins Netz flattern würde.
Wie jeden Morgen betrat er als einer der Ersten die düstere Halle mit den wuchtigen Säulen, die Hannes immer an abgestorbene Bäume erinnerten. Um diese frühe Stunde eilten nur die eifrigsten Beamten bereits zur Arbeit, während die Schreibergehilfen in Hannes’ Alter sich zweifellos noch in ihren Betten wälzten. Wegen seines leichten Hinkens brauchte Hannes geraume Zeit, um die Halle zu durchqueren – an der Wächterpforte vorbei und durch einen ganzen Wald altersdunkler Steinsäulen zu der majestätisch sich emporschwingenden Treppe am anderen Ende. Und Hannes hatte auch gerade erst einen Fuß auf die unterste Stufe gesetzt, als er seinen Namen rufen hörte: »Hilfsschreiber Mergelin!«
Er zog den Fuß zurück und wandte sich um. Zwischen den Säulen eilte ein Mann mittleren Alters herbei, im grauen Gewandder niederen Zensurbeamten. Mit beiden Armen presste er sich einen dicken Packen Papiere vor den Leib und Hannes Mergelins Herz begann schneller zu schlagen. Jetzt erkannte er auch den Mann, der mit gerötetem Antlitz und pumpendem Brustkorb vor ihm stehen blieb – Waldo Mulhardt, Abteilung »Registrierung und Verteilung«.
»Hilfsschreiber Mergelin«, wiederholte Mulhardt, »du wurdest vom Unterzensor Skythis angefordert. Nimm diese drei Schriftstücke gleich mit für ihn hinauf.« Er drückte Hannes den Packen in die Arme und verschwand ohne ein weiteres Wort wieder in der Düsternis zwischen den Säulen.
Den unförmigen Papierstoß wie ein schlafendes Kleinkind auf seinen Armen, eilte Hannes die Treppen hinauf. Unter der Hitze litt er kaum, denn sein magerer Körper hatte nur wenig Wasser auszuschwitzen. Ebenso machten ihm die endlosen Treppen bis hinauf zu Skythis’ Stube nicht allzu viel zu schaffen, da sein linker Fuß, den er gewohnheitsmäßig nachzog, genauso stark wie der rechte war. Er hatte eine wirkungsvolle Technik entwickelt, um sich unmerklich, aber kraftvoll mit dem scheinbar lahmenden Bein abzustoßen, und so kam er recht behände voran. Dabei bot er allerdings den unschönen Anblick
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