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Opus 01 - Das verbotene Buch

Titel: Opus 01 - Das verbotene Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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dem
Buch der Geister
gelesen hatte. Bevor Kronus die magische Fackel in seinem Innern angezündet hatte. Bevor er aus Laurenz’ Welt wieder aufgetaucht und für immer ein anderer geworden war.
    Laut Kronus konnte jeder, der die erste Geschichte »vollständig in sich aufgenommen« hatte, auf dem Gefühlsweg mit jedem anderen in Verbindung treten, der diese Geschichte gleichfalls gelesen und gänzlich verinnerlicht hatte. Und wie sehr dies zutraf, hatte Amos ja noch am selben Tag erfahren: Ganz deutlich hatte er mitgefühlt, was der alte Mann empfand, als er an seinen Bruder Konrad und ihr Zerwürfnis dachte. Trotzdem war Amos nicht im Geringsten auf die Gewitterstürme vorbereitet gewesen, die
Das Buch der Geister
seither in seinem Innern entfachte.
    Sturmböen an Glücksgefühlen, Orkane an Angst und Unruhe. Was ihn vor Kurzem kaum berührt hätte, löste plötzlich donnernden Zorn oder Sturzbäche der Verzweiflung in ihm aus. Zumindest hatte er bis vor wenigen Tagen noch geglaubt, dass er sich an Onkel Heribert halbwegs gewöhnt, den Tod seiner Eltern, die Trennung von Oda, seine Verbannung in diese schreckliche Raubritterhöhle mehr oder weniger verkraftet hätte. Jetzt aber durfte er all diese inneren Wunden nicht einmal mehr mit dem flüchtigsten Gedanken berühren – und schon rasten in ihm Wut, Verzweiflung und Schmerz.
    Und dann wieder, wenn er an Laurentius dachte, wie er seine Lucinda umarmt und geküsst hatte, wurde ihm noch wunderlicher zumute – dann sah er mit einem Mal sich selbst, wie er vor einem blitzhübschen Mädchen auf die Knie fiel, ihre Hand hielt, in tollkühnen Versen ihre Schönheit pries. Und das Allerverrückteste von alledem war: Das wunderschöne Mädchen, das er in seiner Fantasie erblickte, hatte grüne Augen wie Lucinda – aber das weizenblonde Haar und das Lächeln jener Diebin, die ihm in Nürnberg Kronus’ Brief gestohlen hatte.
    Seinen Brief und mein Herz, dachte Amos. Und musste im nächsten Moment losprusten, so ganz und gar unsinnig schien ihm diese Idee. Als ob sie die Allerliebste sein könnte, die er laut Kronus »zum rechten Zeitpunkt« kennen und lieben lernen würde! Vollkommen unmöglich, sagte sich Amos. Was hatte er denn mit der dreckigen Diebin zu tun? Abgesehen von dem Lederriemenmit dem silbernen Dreieck, das er ihr damals vom Hals gerissen hatte.
    Wie ein hungriger junger Hund, so ruhelos strich er im ganzen Burggelände herum. Der Hauptmann und seine Männer lagen kreuz und quer im schattigen Staub. Sie dösten vor sich hin, verdämmerten die ärgste Hitze, wie selbst die Vögel unten im Tannenholz und die Hunde vorn im Burggraben jeden unnötigen Laut und jede überflüssige Bewegung vermieden. Nur die Grillen zirpten wie toll in den Wiesen rings umher, und gerade so, wie eine ganze Bergwiese voll unaufhörlich zirpender Grillen, kam sich Amos vor. Von summender Ungeduld, funkelnder Unrast, zirpender Unruhe erfüllt. Im einen Moment meinte er, auf der Stelle loslaufen zu müssen, hinab nach Kirchenlamitz, um unverzüglich mit Bardo und Marek nach Nürnberg zu reiten. Dann wieder lachte er sich selbst aus: Was um Himmels willen sollte er in der großen Stadt denn beginnen – die grünäugige Diebin suchen, und was dann?
    Er fühlte sich wie eine Kutsche, an deren vier Seiten jeweils vier Pferde angeschirrt worden waren und an alle vier Ecken je ein weiteres dazu. Und alle zwanzig Rösser zerrten den Wagen in alle erdenklichen Richtungen – sodass er mal nach hier, mal nach dort sprang, aber keine drei Fuß weit von der Stelle kam.
    Und doch musste er nach Nürnberg – er fühlte es so quälend deutlich, dass er mit den Zähnen knirschte, sich mit beiden Händen am Türknauf, am Treppengeländer, an Grasbüscheln festhielt, nur um nicht auf der Stelle loszulaufen.
    Kronus hatte ihm streng verboten, ihn vor dem Montag nochmals aufzusuchen. Auch der alte Mann schien angespannt und beunruhigt, als Amos ihn vor drei Tagen auf seinem Mühlhof zurückgelassen hatte. »Hier wird es mir langsam zu gefährlich für dich«, hatte er nochmals in eindringlichem Ton zu ihm gesagt. »Komm nächsten Montag wieder – das genügt für meine Bequemlichkeit und wenn du dann die erste Geschichte noch einmal liest, ist es früh genug.«
    Auf Amos’ Frage, wann er denn die zweite Geschichte lesen dürfe, hatte Kronus mit offensichtlichem Entsetzen den Kopf geschüttelt. »Um Gottes willen, Junge – noch lange nicht. So empfänglich, wie du für diese Geisterschriften bist,

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