Opus 01 - Das verbotene Buch
bewunderte er diesen Mann und wünschte sich nichts sehnlicher, als eines Tages wie er zu werden. So unnahbar, unerschütterlich, unfehlbar. Auch gefiel es ihm sehr, dass Skythis ihn stets Johannes nannte, mit der würdigsten Form seines Vornamens, während er zu Hause, von seinen Eltern und Brüdern, immer nur Hanno gerufen worden war.
Das war möglicherweise sogar das Schrecklichste gewesen, was ihm letzte Nacht geschehen war, dachte Hannes jetzt. Zum ersten Mal nach langen Jahren hatte er an seine Eltern und seine beiden älteren Brüder denken müssen. In schmerzlichen Einzelheiten hatte er sich daran erinnert, wie er sich mit kalten Worten für immer von ihnen losgesagt hatte und fortgegangen war, ohne sich noch einmal nach ihnen umzudrehen. Drei Jahre war das nun her und an diese fernen, eigentlich längst verwundenen Geschehnisse wollte er wirklich nicht mehr denken.
Jan Skythis hatte unterdessen
Das Buch der Geister
aufgeschlagen. Kopfschüttelnd, mit angewiderter Miene überflog er die Seiten, machte sich nur ab und zu eine kurze Notiz, lachte hin und wieder verachtungsvoll auf.
Hannes hatte noch genügend mit Abschriften der Gutachten zu tun, die der Unterzensor ihm letzte Woche diktiert hatte. Doch während er die Feder über das Blatt tanzen ließ, schaute er immerwieder verstohlen zu Skythis hinüber. Auf den erfahrenen Zensurbeamten schien
Das Buch der Geister
keinen besonderen Eindruck zu machen. Das erstaunte Hannes sehr, denn er selbst spürte nach wie vor überdeutlich die Macht, die von diesem Schriftwerk ausging. Auch wenn nun glücklicherweise keine silberfarbenen und stechend grünen Flammen mehr zwischen den Blättern hervorzüngelten wie letzte Nacht. Oder hatte er sich diese Erscheinungen vielleicht nur eingebildet, gefangen zwischen Tag und Traum? Nein, das glaubte Hannes nicht. Zumal er aus dem Schriftstück noch immer jenes dämonische Zischeln aufsteigen hörte, das ihn in der Nacht so sehr verschreckt hatte. Doch Skythis schien nichts davon wahrzunehmen – im Galopp jagte er durch das Geschreibsel des hinterwäldlerischen Verfassers und hatte es lange vor Mittag durcheilt.
»Johannes, einen Amtsbogen«, befahl der Unterzensor, »wir beschließen wie folgt.«
2
»
I
ch bin …«, sagte Amos
und schaute benommen um sich. »Ich bin …« Von den Felsbrocken, dem Fluss, gar von dem grünen Kleinen war nichts mehr zu sehen. Allenfalls noch ein paar Nebelschleier mit den ungefähren Umrissen der Landschaft, aus der er eben zum zweiten Mal zurückgekehrt war. »… bei Kronus«, vollendete er seinen Satz. »Und nicht Laurentius Answer ist mein Name – ich bin Amos von Hohenstein.«
Er horchte kurz in sich hinein, dann musste er grinsen. Anscheinend konnte er zur gleichen Zeit immer nur einer von beiden sein. Amos oder Laurenz. Und jetzt war er wieder Amos, zu Besuch im einstigen Mühlhof – und von Kronus war weit und breit nichts zu sehen.
Das hatten sie allerdings vorher so besprochen, fiel ihm nun ein: Amos sollte lernen, »allein wiederzukehren«. Von Falte zuFalte, von der einen zurück in die andere Welt oder Wirklichkeit. »Damit du nicht irgendwann einmal im
Buch der Geister
steckenbleibst«, hatte Kronus zur Erklärung gesagt. Wobei unklar blieb, wie ernst er diese Warnung gemeint hatte.
Nun gut, dachte Amos, hier bin ich wieder – und ich bin nicht auf Laurenz’ Seite kleben geblieben. Auf einmal spürte er wieder diese kribblige Unruhe, diese hunderttausend Lichtfunken, mit denen er aufgeladen war, seit er zum ersten Mal die Geschichte von Laurenz und Lucinda gelesen hatte. Und dazu auch gleich wieder das innere, dringliche Drängen, nach Nürnberg zu eilen, ohne die Spur einer vernünftigen Erklärung, was er dort machen sollte. Ganz kurz und nebelhaft sah er ein städtisches Straßengewirr vor sich, mit Hunderten Fußgängern, Reitern, Kutschen, Bauernwagen, die alle wild durcheinanderwogten.
Die Erscheinung verblasste. Vielleicht war das gar nicht Nürnberg gewesen, sondern irgendeine andere Stadt – aus einer anderen Welt und Wirklichkeit? Amos schüttelte den Kopf. »Wo seid Ihr, Herr?«, rief er, vermied es jedoch, seine Stimme zu erheben. Schließlich konnte es ja sein, dass sich der alte Mann wieder ein wenig hingelegt hatte.
So leise wie möglich ging er die Stiege zu Kronus’ persönlichen Gemächern hinauf. Als er vor der Schlafkammer des alten Mannes stand, hörte er von drinnen dumpfes Sprechen. Amos hielt den Atem an und legte ein Ohr ans Türholz. Er
Weitere Kostenlose Bücher