Opus 01 - Das verbotene Buch
hervorgezerrt. Er hatte es vorsichtig geöffnet, dann umgestülpt und seinen Inhalt auf den Boden geschüttelt, so wie man einen Sack voller Käfer und Maden ausleert.
Als Nächstes hatte er das Buch umkreist, mit hastig klopfendem Herzen und ohne es auch nur einen Moment lang aus den Augen zu lassen. Hingeduckt lag es auf den Bohlen, glücklicherweise mit der fingerdicken Kordel umschnürt und mit honiggelbem Wachs gesiegelt. In dem Siegel, klar erkennbar, die schnörkellosen Initialen V.K.
Hannes hatte die Schnur nicht geöffnet, so weit hatte seine Selbstbeherrschung gerade noch gereicht. Obwohl es aus dem Teufelsbuch unablässig gezüngelt und gezischelt hatte. Irgendwann tief in der Nacht war er neben dem Buch in die Hocke gegangen, in der Rechten seine Bettkerze, und hatte mit der linken Hand unter dem biegsamen Umschlag hier ein Blatt hervorgezupft und dort ein Eselsohr hineingeknickt, um zu sehen, was darunter geschrieben stand.
Viel hatte er auf diese Weise nicht zu lesen bekommen und Zusammenhänge hatten sich in seinem Geist erst recht nicht hergestellt – aber bei der »Pestbeule einer kranken Seele« konnte von höheren Zusammenhängen wohl sowieso keine Rede sein. »
Eimer voll Wasser
«, hatte Hannes an einer Stelle entziffert, dann »
Schwert aus Blitzen
« oder später, nachdem er weitere Blätter umgeknickt und zwischen Umschlag und Schnüren herumgezupft hatte: »…
toll mit den Köpfen wackelten … die Arme flammengleich … schreiend buntes Gefiederkleid
…« und ähnlicher Unsinn mehr.
Kindisches Gestammel. Fiebriges Gelalle. Des ehrbaren Hilfsschreibers Mergelin gewiss nicht wert. Doch kaum war Hannes wieder auf sein Lager gesunken, hatte die Kerze gelöscht, die Augengeschlossen, da hatte es aufs Neue aus dem Geisterbuch zu wispern begonnen: »Lies, Hannes …
Buch der Geister
… lies.« Und so wieder und wieder, die ganze, qualvoll lange Nacht.
Nun blieb er vor Skythis’ Tür stehen. Lauschte mit angehaltenem Atem, aber außer seinem hastigen Pulsschlag war nichts zu hören. Er klopfte an und trat, ohne eine Antwort abzuwarten, ein.
Der Unterzensor stand schon hinter seinem Pult. »Wo bleibst du denn, Johannes?«, rief er ihm entgegen. »Und wohin hast du nur das Skript verräumt – du weißt schon, das Gefasel dieses hinterwäldlerischen Krösus?«
»Kronus«, korrigierte Hannes, nahm so ruhig wie möglich sein Bündel herab, schnürte es auf und legte
Das Buch der Geister
vor Skythis aufs Pult.
»Du hattest es bei dir?« Der Unterzensor schien befremdet. Aus wölfisch schrägen Augen musterte er argwöhnisch seinen Schreiber.
»Nur zur Sicherheit, Herr«, murmelte Hannes. »Aus Sorge, dass es in falsche Hände geraten könnte. Aber Ihr seht ja – Schnur und Siegel sind unversehrt.«
Skythis betastete die Kordel, mit der das Buch kreuz und quer umwickelt war. Schließlich nickte er und nahm sein Messer zur Hand. »Du hast es gut gemeint, Johannes«, sagte er. »Aber das nächste Mal musst du vorher fragen.«
Hannes bat murmelnd um Verzeihung. Er hinkte hinter das Schreiberpult und begann einen Federkiel anzuspitzen. So durcheinander und zerschlagen war er, dass er sich am liebsten hinter dem Pult auf den Boden gehockt hätte, den Kopf unter seinen Armen vergraben. Aber das ging natürlich nicht.
Der Unterzensor riss und zerrte mit plumpen Fingern die Siegelschnur herunter. Wie stets, wenn er Skythis’ kleine, breite Hände mit den zu kurzen Fingern am Werk sah, fühlte sich Hannes unangenehm berührt. Ihm war bewusst, dass auch er selbst von unansehnlichem Äußeren war, aber der Unterzensor sah geradezu abstoßend aus. Sehr viel eher als einem Christenmenschen ähnelte Jan Skythis einer Kreuzung aus Fuchs und Wolf. Seine Gestaltwar grobknochig und dennoch hager, der Kopf saß auf einem zu dünnen Hals und schien nach oben hin spitz zuzulaufen. Seine Hände schienen zum Graben, ja zum Wühlen in schlammiger Erde viel eher geeignet als zum Schreiben oder zum Blättern in Manuskripten, womit der Unterzensor doch den allergrößten Teil seiner Zeit beschäftigt war. Seine Haut war so grau wie sein Gewand, dabei war er erst Ende dreißig, also noch kein ganz alter Mann. Falls Hannes Mergelin nicht falsch unterrichtet war, lebte Jan Skythis als eigenbrötlerischer Junggeselle in einer schmuck- und lichtlosen Erdgeschosswohnung nur drei Gassen von der Zensurbehörde entfernt. Hannes hatte ihn noch nie anders als griesgrämig, argwöhnisch und kurz angebunden erlebt, und doch
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