Opus 01 - Das verbotene Buch
vernahm Kronus’ vertraute Stimme, aber verfremdet, so als ob der Gelehrte im Tiefschlaf murmelte. »Niemals kann das geschehen«, verstand er. »Für alles ist Vorsorge getroffen. Jede mögliche Wendung wurde bedacht.«
Einige Augenblicke Schweigen. Kronus stöhnte leise auf – dann hob eine gänzlich andere Stimme an zu sprechen. »Und wenn nicht?«, sagte jemand in deutlich gereiztem Tonfall. »Wenn wir doch nicht alle Fäden in der Hand halten – was dann?« Diese zweite klang dünner als Kronus’ Stimme. Es war zweifellos gleichfalls ein Mann, der hier sprach, aber es schien die Stimme eines Greises zu sein.
»Wir haben alles bedacht«, gab Kronus ruhig zurück. »Gott ist mit unserem Plan.«
Das Türholz war von einem Netz haarfeiner Risse durchzogen. Amos versuchte angestrengt hindurchzuspähen, aber die Ritze waren zu dünn, um einen klaren Blick ins Innere zu erlauben. Doch zumindest konnte er erkennen, dass Kronus aufrecht auf einem Schemel inmitten der Kammer saß, den Blick auf die Wand oberhalb seines Bettes gerichtet. Und dass sich außer dem alten Mann niemand dort drinnen aufzuhalten schien.
»Gott und die Geister sind mit uns«, sprach nun die zweite Stimme, und Kronus gestikulierte ärgerlich zur Wand hin.
Amos kniff die Augen zusammen, um besser zu erkennen, was der weise Mann so ausdauernd fixierte. »Auch die Geister«, rief Kronus, »sind Seine Kreaturen!« Er erhob sich und machte ein rasches Zeichen zur Wand hin. Für einen kurzen Augenblick meinte Amos fadendünnen Qualm zu sehen, der über dem Bett vor der hölzernen Wand aufstieg. Doch im nächsten Moment war er sich schon nicht mehr sicher und im übernächsten rief Kronus: »Komm nur herein, es ist nicht verriegelt.«
Beschämt schob Amos die Tür auf. Doch anstatt ihm Vorwürfe zu machen, weil er gelauscht hatte, kam ihm der alte Mann mit einem Lächeln entgegen. »Nun, zurück aus Laurentius’ Welt? Ich habe währenddessen Verse deklamiert – noch in meinen Jugendjahren träumte ich davon, als Schauspieler von Markt zu Markt zu reisen und die Leute mit meinen Bauchrednerkünsten zu verblüffen.« Er legte Amos kurz seine Hände auf die Schultern. »Und wie hat sich das angefühlt, Junge – von Laurentius Answers donnerndem Strom zurück in diese stille Bücherwelt?«
Amos senkte den Kopf. Hatte er die Situation wirklich so falsch eingeschätzt? Eben noch war er sicher gewesen, dass Kronus auf magischem Weg mit einem Geist oder einer weit entfernten Person gesprochen hatte. Doch nun wusste er wieder einmal nicht, was er von der Sache halten sollte.
»Es bringt mich ganz durcheinander«, antwortete er schließlich.»Ich spüre die Kräfte, die
Das Buch der Geister
in mir wachruft – jeden Tag, jede Stunde werden sie stärker. Aber es macht mir Angst, dass ich nicht weiß, wie ich sie einsetzen kann und wohin sie mich führen werden.«
Kronus schüttelte begütigend den Kopf. »Alles wird gut. Vertraue mir, Amos – ich werde dich führen.«
3
»
D
as sogenannte
Buch der Geister
ist ein nichtswürdiges Machwerk gottloser Täuschkunst«, hieß es in Jan Skythis’ Gutachten. »Es enthält vier Schnurren, die der Verfasser selbst erdichtet hat, eine unsinniger als die andere. Gedruckt und in Umlauf gebracht, würde dieser mondsüchtige Sermon die Unordnung in den Köpfen und Herzen der Menschen nur noch vergrößern. Die Fähigkeit jedes arglosen Lesers, die ehernen Gesetze von Gott und Kaiser zu erkennen und zu befolgen, würde durch das narrenhäuslerische Dichtwerk des Valentin Kronus aus Kirchenlamitz unweigerlich schweren Schaden erleiden.
Zum Beweis wird angeführt:
A. Der Verfasser erfabelt einen Ritter, der durch seinen eigenen Schild in eine zweite Welt aus bunten Schatten hinüberkriecht, die nur eine dämonische Trugwelt sein kann.
B. Der Ritter soll in einen Brunnen kriechen, um eine unterirdische Teufelin aufzusuchen.
C. …«
So ging es noch etliche Absätze weiter: Der Unterzensor Jan Skythis erkannte in jeder Zeile des
Buchs der Geister
gottlose Fantastereien, einzig dazu geeignet, etwaige Leser zum Verstoß gegen die Gesetze von Kaiser und Kirche aufzustacheln. Zum Abschluss erklärte Skythis:
»Nach unverrückbarer Überzeugung des Unterzeichnenden sollten erdichtete Schriftstücke grundsätzlich dem striktesten Druckverbotunterliegen, da sie nur Verwirrung stiften und den festen Boden der göttlichen wie der weltlichen Ordnung unterwühlen. Doch auch wenn die Hohe Behörde sich dieser Sichtweise
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