Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Opus 01 - Das verbotene Buch

Titel: Opus 01 - Das verbotene Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
Vom Netzwerk:
würdest du auf dem nächstbesten Sonnenstrahl in den Himmel reiten, wenn ich nicht auf dich aufpasse.«
    »Aber worin besteht denn die Wirkung der zweiten Geschichte?«, hatte Amos gefragt. »Kann man wahrhaftig in den Himmel hinauffliegen, Herr, wenn man sie vollkommen verinnerlicht hat?«
    Doch da war Kronus so einsilbig geworden, wie er es manchmal sein konnte, wenn er genug hatte von Amos’ bohrenden Fragen. »Fliegen? In gewisser Weise schon«, hatte er noch gebrummt, »aber das können nur jene, die ganz bis zum Ende gelangt sind. Und damit genug jetzt.«
    Amos bezweifelte es keinen Augenblick lang. Schon mit der ersten Geschichte hatte Kronus tausend Lichter in seinem Innern angezündet, und wenn er
Das Buch der Geister
erst gänzlich verinnerlicht hätte, könnte er bestimmt auch auf Sonnenstrahlen durch die Lüfte reiten oder sich mit seinem Geist an weit entfernte Orte begeben. Vorläufig aber konnte er nur rastlos umherstreifen und die Stunden zählen, die wie zum Trotz nur noch schneckengleich dahinkrochen.
    Um sich einigermaßen abzulenken, übte er sich frühmorgens, bevor es unerträglich heiß wurde, mit Ritter Heriberts Pagen auf dem Burghof im Kampf. Aber er war mit seinen Gedanken meist anderswo, auf dem Mühlhof, bei Laurentius oder bei jenem Brunnen in Nürnberg. Und da er ohnehin weder am Schwertkampf noch am Ringen viel Gefallen fand, zog er oftmals den Kürzeren. Sogar Bastian, der kleinste und schwächlichste Page, besiegte ihn eines Morgens mit Lanze und Langdolch. Woraufhin aber in Amos ein solches Gewitter donnernden Zorns losbrach, dass er nacheinander dem armen Bastian und den beiden anderen Jünglingen die Turnierschwerter aus den Händen schlug und sie anschließendauch noch einen nach dem anderen mit bloßen Händen zu Boden rang.
    Was ihm aber auch nicht sonderlich weiterhalf. Kaum war er zum Teich unter der Burg hinabgeklettert und ins Wasser gesprungen, um sich den Schweiß von der Haut zu spülen, da kam ihm aufs Neue Nürnberg in den Sinn. Wieder spürte er mit ziehender, zerrender Dringlichkeit, dass er in die große Stadt reisen sollte, so rasch wie nur irgend möglich. Aber warum, bei allen Teufeln, das bekam er nicht heraus – das grünäugige Mädchen, das mit diebischer Hand über seine Brust getastet hatte, konnte doch nicht allen Ernstes sein Reiseziel sein.
    Immer wieder einmal versuchte er, auf dem Gefühlsweg mit Kronus in Verbindung zu kommen, aber das gelang ihm in diesen Tagen so gut wie nie. Der alte Mann hatte ihm erklärt, dass ein solcher Kontakt nur zustande kommen konnte, wenn beide Seiten es wünschten: »Damit ein Bach entspringen kann«, hatte er gesagt, »muss sich die Quelle öffnen. Aber damit er in den größeren Fluss münden kann, muss auch der Fluss sein Bett für ihn auftun.« Doch der alte Gelehrte hielt sein Inneres die meiste Zeit über verschlossen – nur etwa einmal pro Tag, meist in den Abendstunden, spürte Amos so etwas wie einen warmen Lichtstrahl in seinem Herzen, und dann wusste er sogleich, dass Kronus wohlauf war.
    Den größten Teil des Tages ging er allen aus dem Weg. Stundenlang saß er in seinem Lieblingsversteck, einer winzigen Kammer hoch oben im Ostturm der Burg, und schaute ins weite Land hinaus. Tief unter ihm erstreckte sich das Tannenholz, doch vom Mühlhof, der versteckt in seiner Mulde lag, war von hier aus keine Dachschindel zu sehen. Dann wieder kletterte er auf den Felsvorsprung an der anderen Burgseite – eine abschüssige Felsnase unterhalb der Wehrmauer, wo er wiederum stundenlang hockte und sich weit von hier fortträumte. Unter ihm fiel der kahle Fels beinahe senkrecht ab, und am Fuß des Burgbergs schlängelte sich die Straße entlang, die von hier oben wie ein ausgetrockneter Fluss aussah.
    Quälend langsam vergingen die Tage. Abends sah Amos meist dem Falken zu, der über den Feldern vor Kirchenlamitz kreiste. Manchmal eine halbe Stunde lang, ehe der Raubvogel blitzschnell hinabstieß und gleich wieder aufstieg, die Beute im Schnabel. Am Sonntagabend aber blieb der Falke aus.
    Amos nahm es als gutes Zeichen: Morgen in aller Frühe würde er endlich wieder zu Kronus gehen und dort würde sich alles klären. In seinem Herzen fühlte er gleich darauf den warmen Lichtstrahl und er sandte ein glückliches Lächeln zurück.
    Doch im nächsten Moment schon meinte er wieder, vor Unruhe zerspringen zu müssen. Vor Sorge um Kronus, um
Das Buch der Geister
, vor summender, funkelnder Unrast. Mit schrecklicher

Weitere Kostenlose Bücher