Opus 01 - Das verbotene Buch
bedeuten, was Skythis da eben zu ihm gesagt hatte – dass er Manuskripte »wieder einfing«, die von der Zensurbehörde freigegeben worden waren? Vielleicht war Skythis ja mit Beamten der Befreiungsabteilung verbündet, die ihm dieSchriftstücke heimlich für seinen Kerker auslieferten, anstatt sie an die Druckerwerkstätten weiterzuleiten? Aber nein, das konnte nicht gut sein – eine solche Verschwörung wäre viel zu auffällig und die Beteiligten würden bald selbst im Kerker landen.
Was aber steckte sonst dahinter? Vielleicht waren ja die meisten Handschriften, die Skythis hier hortete, niemals bis zur Zensurbehörde gelangt? Möglicherweise kannte Skythis Mittel und Wege, um verdächtige Schriftstücke rechtzeitig vorher an sich zu bringen – ehe sie bei der Zensurbehörde eintrafen oder sogar, bevor die Verfasser überhaupt den Entschluss fassen konnten, ihre Machwerke drucken zu lassen. Oh ja, das ergab schon eher einen Sinn, sagte sich Hannes. Worin aber diese Mittel und Wege bestanden, wollte er den Unterzensor lieber nicht fragen – jedenfalls nicht jetzt. Heute war Skythis zwar von fieberhaftem Rededrang erfüllt, doch morgen würde er sicher schon bereuen, dass er seinem Hilfsschreiber so gefährliche Geheimnisse anvertraut hatte. Und verhielt sich Skythis nicht ohnehin auf einmal beunruhigend still?
Hannes hatte es kaum gedacht, als er hinter sich einen gurgelnden Laut vernahm. Er fuhr herum – und sah eben noch, wie Skythis zum
Buch der Geister
hinstürzte und es vom Boden hochriss. Er hielt es mit seiner linken Hand in die Höhe, während sich seine Rechte am Gürtel zu schaffen machte. Im nächsten Moment hatte der Unterzensor seinen Dolch gezückt und schwenkte die Waffe drohend über dem äußerlich so harmlosen Werk.
»Zwei Tage und zwei Nächte, Valentin Kronus«, schrie er, »hast du mich durch die Hölle gezerrt! Durch den verfluchten Schild wolltest du mich zwängen, in den teuflischen Brunnen mich hinunterdrängen – aber ich habe mich mit allen Kräften gewehrt. Mit tausend Stimmen haben deine Geister auf mich eingeflüstert, mal gedroht und mal geschmeichelt, mal liebkost und mal gepiesackt – doch ich bin standhaft geblieben. Wie der Märtyrer im glühenden Eisenofen, so unbeugbar bin ich, Kronus, und nun ist es an der Zeit, den Spieß umzudrehen.«
Mit einem Ruck stieß er das Messer auf
Das Buch der Geister
hinab, als ob es eine Kreatur wäre, der es das Herz auszustechen galt. Doch ehe auch nur die Spitze seiner Klinge den Umschlag einritzen konnte, zog er das Messer zurück und schob es wieder in seine Gürtelscheide. »Wenn es nur so einfach wäre«, hörte Hannes ihn murmeln.
Einige Augenblicke lang stand Skythis noch so da, kopfschüttelnd über das Buch in seiner Hand gebeugt. Als er sich schließlich wieder zu Hannes umwandte, schien er beinahe wieder er selbst zu sein.
»Du hast es dir sicher schon zusammengereimt, Johannes«, sagte er und deutete links und rechts auf die vergitterten Wände. »Dies alles sind mit Dämonie vergiftete Handschriften und deshalb kann ich sie auch nicht einfach vernichten. Ihre Erschaffer haben sie mit schützender Magie versehen – wer eines dieser Bücher absichtlich beschädigt oder gar durch Feuer oder Säure zu zerstören versucht, setzt sich selbst größter Gefahr aus. Das sicherste Mittel besteht also bis auf Weiteres darin, sie hier einzukerkern.«
So unbeirrbar, wie Hannes ihn seit langen Jahren kannte, führte Skythis seine Gedanken weiter aus. Offenbar hatte er sich zu einem Entschluss durchgerungen. »
Das Buch der Geister
ist mit der gefährlichsten Dämonie getränkt, mit der ich es jemals zu tun hatte«, erklärte er. »Das Gift wirkt hier nicht nur ungleich stärker als bei jedem anderen dämonischen Machwerk, es ist überdies fast unaufspürbar in den erdichteten Geschichten verborgen.« Er hob das Buch und sah es einen Augenblick lang unter zusammengezogenen Augenbrauen an. »Dieses Manuskript ist ohne jeden Zweifel ein Meisterstück verderblichster Teufelskunst«, fuhr er dann aber ganz ruhig fort, »ich selbst habe seine höllischen Kräfte in zweitägigem Martyrium erlebt. Da genügt es bei Weitem nicht, das Machwerk einfach einzukerkern. Denn hier haben wir es mit einer Gefahr und einem Feind zu tun, die beide nur mit äußerster Umsicht und den entschlossensten Maßnahmen besiegt werden können.«
Mit wenigen Schritten war er bei seinem Hilfsschreiber und streckte ihm
Das Buch der Geister
hin. »Gleich morgen
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