Opus 01 - Das verbotene Buch
die Luft anhalten würde.
Aber aus welchem Grund? Was konnte dort draußen herannahen, das sämtlichen Lebewesen den Atem stocken ließ? Oder bildete er sich alles wieder mal nur ein? Nein, bestimmt nicht, sagte sich Amos – seit er die Geschichte
Vom Ritter, der seine Liebste hinter dem Spiegel fand
zum zweiten Mal gelesen hatte, waren seine inneren Kräfte gewaltig angewachsen. »Gefühlsmagie« nannte Kronus diese Gabe, und der alte Mann hatte ihm auch erklärt, wie man sie mit seinem Willen beeinflussen konnte: Man schloss einfach die Augen und erblickte einen glühenden Stern, der sich mit zahllosen Strahlen in alle Richtungen erstreckte. »Das Zentrum des Sterns ist dein Herz«, hatte Kronus mit leisem Lächeln hinzugefügt. »Frage es nach Quelle und Ziel der Strahlen, so wird es dir Antwort geben.«
Das war allerdings leichter gesagt als getan: Bisher hatte Amos, wenn er in dieser Weise sein Herz befragte, lediglich einen glühenden Punkt mit ein paar spinnenbeindünnen Lichtfasern erblickt, die sich gleich schon im Ungefähren verloren. Nur einen einzigen starken Lichtstrahl konnte er ab und an wahrnehmen – das magische Band, das ihn mit Kronus verknüpfte, wenn der alte Mann bereit war, auf diesem Weg mit ihm in Verbindung zu treten. Und das geschah höchstens einmal am Tag, meist in den Abendstunden.
Amos schloss die Augen. Sogleich erblickte er den glühenden Punkt, der in seinem Innern pulsierte wie ein zweites, rotgoldenes Herz. Ein paar matt glimmende Fasern schlängelten sich aus demLichtpunkt hervor, und im Stillen befragte Amos sein Herz zu jedem einzelnen Strahl: Wohin führt er? Mit wem verbindet er mich? So forschte er wieder und wieder, doch sein Herz blieb stumm. Bis Amos schließlich zum letzten dieser Rinnsale aus Licht gelangte. Es wirkte ein wenig kräftiger als die anderen, aber es flackerte und zuckte krampfhaft – wie eine Kerze, die im Zugwind gleich erlöschen würde.
Wer ist das?, fragte Amos. Mit wem verknüpft mich dieses Band?
Doch sein Herz blieb abermals stumm.
Da wandte er sich direkt an die Quelle des Rinnsals aus Licht, das sich zuckend und flackernd von Südwest her auf ihn zubewegte – von Nürnberg her, durchfuhr es ihn und sein Herz machte einen Satz. Wer bist du?, fragte Amos. Was treibt dich hierher?
Voller Hoffnung horchte er in die summende, knisternde Stille hinein. So weit, wie er nur konnte, öffnete Amos sein Herz, um die Antwort, wie flackernd und schwach sie auch ausfallen würde, in sich aufzunehmen. Und dann spürte er einen beißenden Schmerz und schrie auf und krümmte sich auf seinem Lager zusammen – als ob eine mordlüsterne Kreatur ihre nadelspitzen Zähne in sein Herz geschlagen hätte und das Licht aus seinem Innersten gierig in sich hineinschlürfte.
Es dauerte nicht länger als einen Wimpernschlag, dann ließ der grässliche Lichtfresser – oder was es gewesen sein mochte – von ihm ab. Amos rollte sich auf den Rücken. Sein Atem ging keuchend, sein Herz raste. Minutenlang lag er einfach so da, starrte zur Decke und versuchte, sich zu beruhigen, wieder zu Atem zu kommen. Und zu verstehen, was da eben mit ihm passiert war.
Kronus hatte ihn gewarnt: »Jeder Lichtfluss verbindet dein Herz mit dem Gefühlsstrom eines anderen Geschöpfes. Du musst lernen, auf diesen magischen Gewässern zu fahren, Amos – und zu erkennen, wen du wie nah an deinen Lichtquell herankommen lassen darfst. Öffne niemals dein Herz für irgendwen, dessen Absichten du nicht kennst.«
Diese Warnung hatte er nicht beherzigt. Und dafür hatte er eben büßen müssen – mit einem grässlichen Schmerz, den er noch immer in sich spürte, und mit einem Erschrecken, das nur ganz allmählich wieder nachließ.
Wer um alles in der Welt war diese Kreatur, die mit zuckender Gier ihre Zähne in sein Herz geschlagen hatte? Mit seiner linken Hand tastete Amos nach dem Amulett in der Wandritze. Der kühle glatte Augenstein an seinen Fingerspitzen wirkte beruhigend. Er zog es aus der Ritze hervor, setzte sich auf und hängte es sich um den Hals.
Dünn und verweht klang von Kirchenlamitz her der Stundenschlag herüber. Fünf Uhr. Auch wenn er vor innerer Unruhe beinahe zersprang – seine Schwester durfte er frühestens um sieben wecken. Und bis dahin musste er herausgefunden haben, was es mit dem grauenvollen Wesen auf sich hatte, das sich Burg Hohenstein von Südwesten her näherte – mit einem krampfhaften innerlichen Zucken, als ob es seine übermächtigen Gefühle mal
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