Opus 01 - Das verbotene Buch
Oda. Sie ist endlich da. Es war mehr ein innerliches Jubeln, es fühlte sich beinahe an wie das Glück, das er als kleiner Junge manchmal empfunden hatte: ein warmes Pulsieren, ein goldener Lichtstrahl, wenn er mit Eltern und Schwester beisammensaß und sie gemeinsam sangen oder der Vater ihnen eine Geschichte von tückischen Zwergen und tanzwütigen Feen erzählte.
Oda war wirklich gekommen, gestern Nachmittag. So eingestaubt und durchgeschüttelt, wie sie es vorausgesagt hatte, und so zu Tränen gerührt, als sie aus der Kutsche geklettert und in seine Arme gefallen war.
Er musste sich zwingen, noch auf seinem Strohlager liegen zu bleiben – am liebsten wäre er auf der Stelle aufgesprungen und zu ihr in die Turmkammer emporgestürmt. Aber der Tag hatte kaum erst zu dämmern begonnen, und er hatte ihr versprechen müssen, dass er sie heute erst einmal ausschlafen ließ. Die dreitägige Reise hatte ihr doch ziemlich zugesetzt – die harten Holzbänke, das unaufhörliche Schütteln und Rütteln und, als ärgste Plage von allen, die beiden gestrengen Nonnen, die Klara und sie während der ganzen Reise nicht aus den Augen gelassen hatten.
Vor seiner Tür hörte Amos den Onkel und die anderen Männer in der Halle herumkramen. Sie waren offenbar schon bereit zum Aufbruch – zweifellos zu ihrem großartigen Raub- oder Kriegszug, wegen dem sich Heribert und Höttsche seit Tagen immer wieder tuschelnd berieten. Amos hatte ein äußerst ungutes Gefühl dabei, aber das hatte er eigentlich immer, wenn es um den Ritter und seine Räubereien ging. Was genau sie im Schilde führten, wollte er gar nicht wissen – doch es musste wirklich eine größere Sache sein. Gestern Abend hatte der Onkel das übliche Saufgelage weit vor Mitternacht abgebrochen und seine Männer in die Betten gescheucht: »Morgen müsst ihr hellwach sein. Wenn alles gut geht, haben wir bald schon ausgesorgt.« Solcherlei großmäuligeParolen hatte Amos schon mehr als einmal von Onkel Heribert gehört. Diesmal schien jedoch mehr dahinterzustecken – so aufgeregt und gleichzeitig hochgestimmt hatte er den Ritter niemals vorher gesehen.
Aber er hatte jetzt überhaupt keine Lust, an den Onkel und seine Räubereien zu denken. Was immer sie ausgeheckt haben mochten – Hauptsache, Heribert und Höttsche machten sich mit ihren drei Dutzend Raufbolden möglichst rasch davon und kehrten so bald nicht zurück. Dann waren Oda und er wenigstens ein paar Tage lang ungestört und konnten sich gegenseitig alles erzählen, was sie im letzten Jahr erlebt hatten.
Im Liegen tastete Amos nach dem Amulett – gestern Mittag hatte er es kurz entschlossen in die Ritze zwischen seinem Bett und der Zimmerwand geschoben, bevor er losgeritten war, um Oda in Kirchenlamitz abzuholen. Gleich nachher beim Frühstück musste er seiner Schwester erzählen, dass er ihre Freundin Klara schon von Nürnberg her kannte. Aber wie sollte er ihr nur erklären, was damals zwischen ihm und dem grünäugigen Mädchen vorgefallen war? Darüber grübelte er schon seit Tagen nach, doch bisher war ihm nichts Gescheites eingefallen. Denn dann müsste er Oda ja auch von Kronus und dem Brief für jenen Hebedank und letzten Endes sogar vom
Buch der Geister
erzählen und all das hatte der alte Mann ihm streng untersagt.
Es würde sich nachher schon von selbst ergeben, dachte Amos dann. Hauptsache, der Onkel und seine Räuberschar verschwanden erst einmal von der Bildfläche – später würde er sich mit Oda irgendwo im Schatten auf die Burgmauer setzen, und wenn sie ihm zulächelte, würden ihm die nötigen Wörter schon von allein zufliegen. Über diesen ermutigenden Aussichten nickte Amos schließlich doch noch einmal ein.
Als er neuerlich zu sich kam, war um ihn herum alles still. Keine Schritte, kein Poltern und Fluchen mehr draußen im Saal. Die ganze Burg schien vor Stille regelrecht zu summen. Oder war das die innere Unruhe, die ihn wieder einmal gepackt hielt – wieso häufig, seit er die erste Geschichte aus dem
Buch der Geister
gelesen hatte?
Seit er noch einmal eingeschlafen war, konnte höchstens eine Stunde vergangen sein – und doch kam es ihm mit einem Mal so vor, als ob in dieser kurzen Spanne alles gänzlich anders geworden wäre. Die Ruhe um ihn herum schien ihm nicht mehr friedlich, sondern unheilvoll, eine Stille wie bei tödlichem Erschrecken. Er lauschte zur Fensterluke hin – nicht der matteste Windhauch oder auch nur das leiseste Vogelgezwitscher. Als ob die ganze Welt
Weitere Kostenlose Bücher