Opus 01 - Das verbotene Buch
die schauerlichsten Dinge erzählen gehört. Im Namen Jesu Christi ließen die Ketzerjäger Verdächtige aufs Rad flechten, zerbrachen ihnen die Gliedmaßen oder zwackten sie mit glühenden Zangen. Aber fast mehr noch als seine Angst vor Marterschmerzen plagte Amos seinGewissen: Er hätte nicht so lange warten dürfen, schon vor Stunden hätte er sich vom Turm abseilen müssen – dann hätte er es bestimmt noch geschafft, Kronus zu warnen. Doch nun hatten der Onkel und Höttsche dem Inquisitor offenbar erzählt, dass Kronus ihm sogar einen Botenritt nach Nürnberg anvertraut hatte – und jetzt würden die Hexen- und Bücherjäger ihn einsperren und verhören und nicht mehr aus den Augen lassen. Falls er nach der Befragung überhaupt noch zu einem Fluchtversuch imstande war.
Er wechselte einen raschen Blick mit Oda, versuchte, sie beruhigend anzulächeln, doch sein Gesicht fühlte sich starr an. »Der Inquisitor?«, brachte er hervor.
»Gehen wir.« Der groß gewachsene Mann schob ihn vor sich her. Die Wendeltreppe hinunter, an den beiden Wächtern vorbei und hinaus auf den Burghof. Der Tag neigte sich bereits wieder.
In den Augenwinkeln hatte Amos gerade noch sehen können, dass ihnen der graue Bursche in einigem Abstand folgte. So war zumindest Oda fürs Erste wieder in Sicherheit. Er musste einen letzten Versuch machen, sagte sich Amos, um den alten Mann doch noch rechtzeitig zu erreichen.
Der Offizier schob ihn vor sich her und Amos senkte im Gehen seine Lider. Mit einiger Mühe fand er in seinem Innern den pulsierenden, rotgoldenen Punkt wieder, sein magisches Herz. Abermals gingen nur ein paar wenige Lichtfäden davon aus, dünn wie Spinnweb, die sich gleich wieder im Dunkeln verloren. Von dem kräftigen, weithin leuchtenden Strahl, der ihn manchmal mit Kronus verknüpfte, war nichts zu sehen. Dafür war jenes krampfhaft zuckende Rinnsal aus Licht noch immer vorhanden, und Amos nahm ganz nebenher auch wahr, dass es an Leuchtkraft deutlich gewonnen hatte. Aber der Offizier stieß ihn vor sich her, und so blieben ihm nur noch wenige Augenblicke, um Kronus zu erreichen.
Amos richtete all seine Gefühlskräfte auf ihn und beschwor Kronus im Stillen: Bitte, Herr, hört meinen Ruf! Weit öffnete er sein Herz, um den alten Mann anzurufen – und dann spürte eraufs Neue jenen furchtbaren Schmerz, ein Beißen und Reißen, als ob eine blutgierige Bestie ihre Zähne in sein Herz geschlagen hätte.
»Was ist mit dir, mein Sohn?«, fragte der Offizier. »Du hast geseufzt, als ob dich etwas bedrücken würde. Schütte nur dem Herrn Inquisitor dein Herz aus – danach wirst du dich leicht und rein fühlen.«
Gegen den Druck der beiden Hände, die ihn weiter voranschoben, verlangsamte Amos seine Schritte. Er drehte den Kopf zurück und schaute an dem Offizier vorbei nach hinten.
Gerade eben trat der graue Kerl aus dem Turm. Schultern und Gliedmaßen stachen ihm so spitz unter dem Gewand hervor, als ob er anstelle eines Leibes ein Bündel trockenen Reisigs umhertragen würde. Doch so schwach und kränklich er sonst auch wirken mochte – seine wasserhellen Augen strahlten eine kraftvolle Gier aus, als ob es die Augen eines mächtigen Raubtiers wären. Erstaunt sah Amos, dass der graue Kerl einen Fuß nachzog.
Und dann packte ihn eine Hand im Nacken und drehte seinen Kopf gewaltsam wieder nach vorn. »Knie nieder, mein Sohn, und bete um Gnade!« Der Offizier versetzte ihm einen Stoß in den Rücken und Amos fiel schmerzhaft auf die Knie.
»Amos von Hohenstein?«
Er hob seinen Kopf und zwei Schritte vor ihm stand der Inquisitor. Der wölfisch wirkende Mann neben ihm musste also der Unterzensor Skythis sein.
»Der bin ich, Herr.«
»Ich habe nur eine einzige Frage an dich, mein Sohn.« Die sinkende Sonne in seinem Rücken ließ Cellaris Purpurrobe lodern, als ob sie aus Flammenzungen gewoben wäre, und malte einen Lichtkranz um sein Haupt, wie auf den Heiligenbildern in der Josephskirche zu Kirchenlamitz. Den Gesichtsausdruck des Inquisitors konnte Amos nicht erkennen – im Gegenlicht der Abendsonne war sein Antlitz eine leere Scheibe, so als ob der Maler all seine Kraft darin erschöpft hätte, das Flammenkleid und den Heiligenscheinzu malen. »Antworte nicht sofort, sondern erforsche zuerst deine Erinnerung.«
Amos sah nur weiter zu dem leeren Antlitz auf. In seinem Rücken spürte er den Hinkenden, der einige Schritte hinter ihm stehen geblieben war.
Weil er selbst so schwach ist, durchfuhr es Amos, ist er zum
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