Opus 01 - Das verbotene Buch
Turmfuß werden – wenn er sich für einen Moment nur mit einer Hand am Seil festklammern könnte, während er mit der anderen am Felsgrat Halt suchte. Und über die weiteren Schwierigkeiten würde er erst nachdenken, wenn es darum ginge, sie eine nach der anderen zu meistern.
Doch Amos hing noch auf halber Höhe an der Turmwand, als er über sich einen halb erstickten Schrei hörte. Er schob einen Fuß in die Fensterluke von Odas Kammer, umklammerte das Seil fester und legte seinen Kopf so weit er konnte zurück.
Dort oben stand noch immer seine Schwester an der Brüstung und ihr Gesicht zwischen den wirren schwarzen Locken war nunkreideweiß. Neben ihr stand ein elend magerer Kerl, an dem alles grau und kraftlos schien – bis auf den Blick seiner wasserhellen Augen, die starr auf Amos gerichtet waren. Und das im Sonnenlicht schimmernde Messer in seiner Rechten, das er an Odas Hals gedrückt hielt.
»Komm sofort zurück!« Auch die Stimme des knochigen Burschen klang kränklich und so gepresst, als ob er seit vielen Tagen mit niemandem geredet hätte. »Oder ich schneide ihr die Kehle durch.«
Der Kerl lehnte sich noch weiter vor und zwang Oda, sich genauso vorzubeugen. Ihr Kopf hing schon über die Brüstung und ihre Augen waren so weit aufgerissen, dass sie Amos selbst aus fünfzehn Fuß Entfernung unwirklich groß erschienen.
»Lass sie in Ruhe! Ich komme wieder hoch!« Amos rief es so gedämpft, dass die Wächter unten im Durchlass ihn nicht hören konnten – doch darauf kam es jetzt eigentlich nicht mehr an. Sein Plan war gescheitert, noch bevor er ihn richtig erproben konnte, und schuld daran war der knochendürre Kerl da oben.
Amos zog sich an seinem Seil wieder hoch, so rasch er nur konnte. Sein Atem ging keuchend und die Hitze stieg ihm ins Gesicht. Der Kerl, der Oda mit seinem Messer bedrohte, war niemand anderes als die dämonische Kreatur. Er fühlte es ganz deutlich, und er sah es auch an den Augen des Kerls, seinem Blick voll kalter Gier, der noch immer starr auf ihn gerichtet war. Es war der Lichtfresser, der an seinem inneren Quell geräubert hatte. Wie einen Dämon aus Albträumen und Teufelssagen hatte Amos sich den Lichträuber vorgestellt, von abstoßender Tiergestalt, mit Hörnern, Fell und Krallen. Doch dieser Bursche da oben sah wie ein ganz gewöhnlicher, nur krankhaft magerer Jüngling aus, kaum älter als Oda oder auch nur er selbst.
Woher besaß der grässliche Kerl die Fähigkeit, auf dem Gefühlsweg mit anderen Menschen Verbindung aufzunehmen? Hatte er etwa auch im
Buch der Geister
gelesen – waren auf diese Weise magische Kräfte in ihm lebendig geworden, die er nun auf das Schändlichste missbrauchte? Aber Kronus hatte gesagt, dassdies niemals geschehen könnte – dass die Bücherjäger in den magischen Strom so wenig einzutauchen vermochten, wie eine geräucherte Forelle im Gründleinsbach schwimmen konnte. Doch was diesen einen dort anging, den Burschen mit den distelspitzen Schultern unter dem grauen Lumpenhemd – da hatte sich der weise Mann allem Anschein nach getäuscht.
Außer Atem kletterte Amos oben wieder auf die Brüstung. Seine Arme brannten vor Anstrengung und seine Brust hob und senkte sich wie ein Blasebalg. »Lass sie los!«, keuchte er und wollte sich eben auf den grauen Knochenkerl stürzen, als von der Treppe her das Stampfen von Schritten erklang.
Augenblicklich nahm der magere Bursche sein Messer von Odas Kehle. Er wandte sich um, durchtrennte blitzschnell das um die Zinne geknüpfte Seil und schob eben die Klinge zurück in seine Gürtelscheide, als der Offizier mit dem federbuschgeschmückten Helm aus dem Treppenschacht stieg.
Amos warf einen raschen Blick hinter sich und fühlte ein zorniges Bedauern: Wie viele Stunden und Tage lang hatte er Seilstücke und Tuchfetzen zusammengedreht – und nun war alles unwiederbringlich in die Schlucht hinabgefahren. Doch stärker als seine Wut über das verlorene Seil war sein Erstaunen: Warum hatte der graue Kerl das Seil verschwinden lassen – den Beweis, dass Amos eben hatte fliehen wollen?
Mit großen Schritten eilte der Offizier auf sie zu. Oda streifte er mit einem raschen Lächeln, den grauen Burschen mit einem düsteren Blick. »Mein Sohn«, sagte er dann zu Amos, und sein Lächeln wurde stählern, »folge mir nun, der Herr Inquisitor Cellari und der Unterzensor Skythis werden dich befragen.«
Die Kehle wurde Amos eng, als er diese Worte vernahm. Von Befragungen durch die Inquisition hatte er schon
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