Opus 01 - Das verbotene Buch
von Skythis. Doch der Unterzensor malmte lediglich mit den Kiefern.
»Nun denn, seit damals«, brachte Cellari seine kleine Darbietung zu Ende, »seit dem Tod seiner bedauernswerten Eltern lebt jedenfalls Amos von Hohenstein hier bei seinem Onkel Heribert auf der Burg. Er soll seinem Großvater Kasimir in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich sein, das versichern jedenfalls meine Gewährsleute. Vor allem aber – und jetzt merkt nur gut auf, Skythis – ist er der engste Vertraute von Valentin Kronus, den er regelmäßig auf seinem Pachthof besucht. Man könnte sagen, der Enkel – mittlerweile ein Jüngling von gut fünfzehn Jahren – hat geradezu den Platz seines Großvaters Kasimir eingenommen, was seine Verbindung zu Kronus betrifft. Und jetzt macht Euch einen Reim darauf, Freund, wenn Ihr es vermögt.«
Die Fäuste vor sich auf dem Tisch geballt, saß Skythis da und starrte ins Leere. »Wie lautet der Eure?«
»Ich habe ihn noch nicht gefunden. Aber mein Gespür sagt mir: Dieser Junge ist nicht durch blinden Zufall zur Waise geworden. Es war die Hand eines kaltblütigen Spielers, die sich seiner bemächtigt hat, davon bin ich überzeugt – die Hand des Opus Spiritus. Wir müssen nun nur noch herausfinden, welche Aufgabe die Loge ihm zugedacht hat. Und dann verhindern, dass er sie erfüllt.«
Abermals brütete der Unterzensor vor sich hin. »Wo ist der Junge?«, bellte er schließlich.
Cellari lächelte zu einem der Federbüsche hinüber. »Elias hat ihn dort hinten im Turm festgesetzt. Ihn und seine Schwester«, fügte er hinzu, »die unglücklicherweise gerade zu Besuch ist.« Ein Schatten flog über sein Gesicht, doch gleich darauf kehrte das Lächeln zurück. »Gewiss werden wir auch ihn befragen«, sagte er, »aber versprecht Euch besser nichts davon, mein Freund: Von der Loge und ihren teuflischen Winkelzügen weiß der Junge so wenig, wie ein Schachbauer die Absichten des Spielers kennt – oder auch nur ahnt, dass er bloß eine hölzerne Puppe ist, die über das Spielfeld geschoben wird.«
Erst als er Meinolfs spöttisches Grinsen bemerkte, fiel Hannes auf, dass er den Inquisitor mit offenem Mund anstaunte. Einem Menschen wie Leo Cellari war er in seinem ganzen Leben noch nicht begegnet. Der Inquisitor selbst kam ihm wie eine komplizierte mechanische Figur vor, die zu den unerhörtesten Kunststücken imstande war. Beispielsweise verstand es Cellari, sein Gesicht je nach Bedarf vollkommen umzufalten – zu Masken des Wohlwollens, des Spotts oder des Mitgefühls. Alles an ihm ist gespielt, sagte sich Hannes, außer seiner Eitelkeit – und vielleicht sogar auch die.
Während ein Teil von Hannes noch über die Verwandlungskünste des Inquisitors nachdachte, schweifte er im Geiste mehr und mehr zu dem Turm dort hinten ab, den Cellari eben erwähnt hatte. Jener andere, sagte sich Hannes, den er heute früh in einer Fensterluke jenes Turms gesehen oder eigentlich mehr erspürt hatte, das musste also er gewesen sein: Amos von Hohenstein, ein Knabe noch, fast zwei Jahre jünger als er selbst – und doch bereits der Vertraute des Bücherteufels Kronus.
»Ich schlage vor, Freund Skythis«, sagte Cellari, »dass wir als Erstes den Ritter befragen und sodann den Neffen. Oder wie seht Ihr das?«
Ehe Cellari zu Ende gesprochen hatte, war Skythis bereits aufgesprungen. »Den Blutwanst, dann den Bengel!«, bellte er. »Unddanach gehe ich hinüber zum Mühlhof, Cellari – ob mit Euch oder allein.«
Lichterloh brannten die Klatschmohnflecken auf Meinolfs Wangen. Die Federbüsche wogten hin und her, als ob der Sturmwind aus Cellaris gebauschtem Unterkleid hervorgebrochen wäre. Nur Alexius, der zweite junge Dominikaner, saß unbeweglich an der Tafel, ein Sinnbild bronzener Selbstbeherrschung. Neben ihm Hannes, der den Blick des Unterzensors suchte, dann fast unmerklich mit der Schläfe zu dem Turm in seinem Rücken deutete. Skythis nickte.
Während Hannes Mergelin eilends über den Burghof humpelte, nahmen der Inquisitor und der Unterzensor von den Wachsoldaten jeder eine brennende Fackel entgegen. So gerüstet, stiegen sie in das Verlies unter dem Palas hinunter, das der Ritter als Sommerfrische für jenen Freiherr von Waldesruh vorgesehen hatte und wo nun er selbst zwischen Moderpfützen und Rattenknochen auf einem Mauerbrocken saß.
10
B
ehände kletterte Amos
die Turmwand am ächzenden Seil hinab. Dieser erste Teil seines Fluchtplans war noch einigermaßen einfach. Schwieriger würde es gleich unten am
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