Opus 01 - Das verbotene Buch
auf dem Gefühlsweg in Verbindung zu treten, Gedanken zu senden und zu empfangen, und weitere Fähigkeiten, über die Kronus sich bisher nur undeutlich geäußert hatte. »Ein wenig wie die Engel« würden jene Leser werden, die im
Buch der Geister
auch die dritte und die vierte Geschichte gelesen und gänzlich verinnerlicht hätten. Amos konnte sich zwar nur wenig darunter vorstellen – aber wie konnte etwas, das die Menschen den Engeln ähnlicher machte, Teufelswerk sein?
Abermals durchquerte er den dämmrigen Saal. Vor der Fensterluke neben der Tür hob er sich auf die Zehenspitzen und sah, wie sich einer der jungen Dominikanermönche und sechs weitere Purpurkrieger auf ihre Pferde schwangen. Währenddessen rollte die Kutsche des Inquisitors langsam von links her ins Bild. Cellari und Skythis saßen bereits im Wagen. Von dem mageren Kerl dagegen, der Oda mit seinem Messer bedroht hatte, war nichts zu sehen – weder in der Kutsche noch irgendwo draußen auf dem Hof.
Während drei der Zehnertrupps linksum schwenkten und hinter ihren Offizieren Richtung Durchlass marschierten, senkte sich mit rostigem Kreischen langsam die Zugbrücke. Offenbar würden sie lediglich einen Offizier und neun Soldaten hier zurücklassen – mehr als genug, um die Gefangenen zu bewachen. Zumal deren Gewehre und Schwerter draußen auf dem Burghof aufgestapelt lagen wie ein Haufen rostiges Eisen.
Ich habe versagt, dachte Amos wieder. Wenn sie den alten Mann jetzt überfallen, ihn verschleppen, womöglich umbringen,seine Bibliothek zerstören, wie er das immer befürchtet hat – dann ist alles einzig meine Schuld.
Er wandte sich ab und schlug die Hände vor sein Gesicht.
Herr, dachte er, ich bin Eurer Zuneigung, Eures Vertrauens nicht wert.
2
D
ie Turmglocken von Kirchenlamitz
schlugen die Stunde. Und wie in so vielen Nächten vorher, wenn er vor Zorn und Kummer wach gelegen hatte, zählte Amos im Stillen mit. Zehn – elf – zwölf volle Schläge, dann zwei mattere Töne: halb eins.
Gerade erst waren die Glockenklänge verhallt, da begann eine Frau zu schreien.
Die halbe Nacht lang war Amos im Burgsaal hin und her gelaufen, schließlich vor Erschöpfung neben Höttsche auf die Steinbank gesackt. Nun sprang er wieder auf und rannte im Halbdunkel zur Tür.
Oda?
Abermals ein Schrei – angstvoll und halb erstickt, als ob sie gewürgt oder ihr der Mund zugehalten würde. Oda oder sonst irgendeine junge Frau, aber die Schreie klangen so schrecklich nah, und außer Oda gab es hier weit und breit keine Weibspersonen.
Er zerrte am Riegel, doch die Tür war von außen verrammelt. Wie er auch daran zog und riss, sie ließ sich keinen Zollbreit bewegen. »Aufmachen!« Er schrie es und trommelte mit den Fäusten gegen die rostigen Eisenbeschläge. »Aufmachen, verdammt! Verfluchte Kerle, lasst sie los!«
Grauenvolle Bilder flackerten in seinem Innern: Der magere Bursche war wieder bei Oda und traktierte sie mit seinem Messer. Und die Purpurkrieger standen mit ihrem strahlenden Lächeln dabei und dachten gar nicht daran, ihr zu helfen. »Aufmachen! Ihr wollt Soldaten Christi sein? Mörder seid ihr! Macht endlichauf!« Er schlug sich die Fäuste blutig und merkte es erst, als er von hinten gepackt wurde.
»Haltet Euer Maul, junger Herr«, fuhr ihn eine raue Stimme an. Eisenharte Hände zerrten ihn von der Tür weg und zu seinem Platz neben dem Hauptmann zurück. »Ihr habt uns schon tief genug in den Morast geritten, Herr Amos«, grollte ein weiterer Räuber. »Jetzt gebt endlich Ruhe – oder wollt Ihr, dass uns die Kirchenkrieger allesamt töten?«
Noch einmal schrie die junge Frau dort draußen auf – ein schrecklich schriller Schrei, der unvermittelt abbrach. Und noch furchtbarer war die Stille danach.
Die unnachgiebigen Hände hielten Amos auf die Steinbank niedergedrückt. So saß er neben Höttsche und starrte auf seine blutenden Fäuste hinab, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Er lauschte in sich hinein, mit all seinen Gefühlskräften versuchte er, zu erspüren, wie es Oda ging. Doch wie weit er sein Herz auch öffnete, er vermochte nicht die leiseste Regung von ihr zu erfühlen.
Keine Angst, keine Schmerzen, nichts.
Die Hände auf seinen Schultern gaben ihn frei, aber Amos blieb sitzen, wo er saß. »Alles ist meine Schuld«, sagte er und merkte kaum, dass er laut vor sich hin sprach.
»Da sagt er es selbst!«, schrie der raue Kerl, der ihn eben von der Tür weggezerrt hatte. »Herr Amos ist es schuld, wenn wir alle wie
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