Opus 01 - Das verbotene Buch
Meinolf also trat nun in den Saal, wo außer ihm niemand mehr aufrecht stand.
Der Morgen dämmerte. In seiner herabhängenden Rechten hielt Meinolf ein Messer, dessen scharfgezackte Klinge sich so deutlich abzeichnete wie bei einem Schattenriss. Der Mönch machte einige tänzelnde Schritte, bückte sich dann zu einem der am Boden liegenden Männer hinab. Amos hörte ihn murmeln, sah die feingliedrige Hand, die dem Stöhnenden über den Kopf strich. Und dann Bruder Meinolfs Rechte mit dem Messer, die dem Verletzten blitzschnell den Hals durchschnitt.
»Keinen Laut, junger Herr«, hauchte Höttsche in Amos’ Ohr. Obwohl er nicht einmal flüsterte, konnte Amos jede Silbe ganz klar verstehen. »Jedem, der noch stöhnt oder zuckt, macht er den Garaus – darauf freut sich der kleine Teufel schon den ganzen Tag.«
Amos nickte fast unmerklich – zum Zeichen, dass er verstanden hatte und dass er Höttsche recht gab. Er hatte die roten Flecken auf Meinolfs Wangen, seinen brennenden Blick auch gesehen – nur erkannte er jetzt erst, was den jungen Mönch derart in Hitze versetzt hatte. Es war Blutdurst, Mordgier.
Mit elfenhafter Leichtigkeit tänzelte Meinolf von einem Verwundeten zum nächsten, tröstete die Männer mit Murmeln und Streicheln und stieß ihnen dann die Klinge ins Fleisch. Sie werden uns alle töten, ehe der Morgen graut, hatte Höttsche gesagt. Offenbar hatte er sich um eine geringe Zeitspanne verrechnet: Draußen dämmerte der Tag herauf und sie waren noch immer am Leben. Doch der Todesengel, der kleine Teufel im Mönchsrock, kam unerbittlich näher.
»Wollt Ihr nicht endlich erfahren, wie ich mir das Narben-X auf meiner Stirn zugezogen habe, junger Herr?« Obwohl Höttsche nur hauchte, spürte Amos, dass ihm das Atmen mittlerweileMühe machte. Wieder nickte er fast unmerklich, Höttsches kratzigen Bart an seinem Ohr: Raus mit der Wahrheit, Hauptmann.
Dabei wollte er überhaupt nicht hören, was Höttsche jetzt mit letzter Kraft raunen würde. Viel lieber wäre er aufgesprungen, weggerannt, so wie er heute immer aufs Neue losgelaufen war, wenn er jenen sausenden Schwindel verspürt hatte. Aber er musste auf dem harten Boden liegen bleiben, während Höttsche sich mehr und mehr auf ihn wälzte, ihn unter sich begrub wie eine Lawine aus Bauch und Blut und Bart.
»Das war vor bald drei Jahren«, hauchte der Hauptmann, »in einem brennenden Gutshof. Dort im Keller stand ein steinerner Kasten mit einem in den Deckel gemeißelten Kreuz. Vor lauter Rauch und Ruß tränten mir die Augen, und so geriet ich ins Stolpern und …« Er unterbrach sich und atmete rasselnd ein und aus.
Amos hörte die tänzelnden Schritte, ihr plötzliches Stocken, das Murmeln des jungen Dominikaners, ehe der Chor der Stöhnenden um eine weitere Stimme geringer wurde.
»Mit voller Wucht«, hauchte Höttsche, »bin ich gegen das Steinkreuz gekracht. Es war glühend heiß, das ganze Haus stand ja in Flammen, und so hat sich mir das Zeichen für immer in die Stirn gebrannt. Und seither frage ich mich jeden Tag, was es damit auf sich hat – ob es das Mal eines Meuchelmörders ist … oder …« Die letzten Kräfte schienen den Hauptmann zu verlassen. Erstickend schwer lag er auf Amos’ Brust. Die Abstände zwischen seinen mühsamen Atemzügen dehnten sich immer mehr. »… oder ein Zeichen, dass der Herr im Himmel mich … zu dieser Tat berufen hat«, hauchte Höttsche, als Amos schon glaubte, dass er seinen Satz niemals mehr beenden würde. »Junger Herr, verzeiht …«
Damit wälzte er sich vollends auf Amos und begrub ihn ganz und gar unter der Masse seines Leibes und dem riesenhaften schwarzen Umhang, der sie beide wie ein Leichentuch einhüllte.
Höttsche also, dachte Amos. So brennend deutlich, als ob es gestern erst gewesen wäre, erinnerte er sich an den Steinkasten imKeller ihres Hauses, wo er sich mit Oda verborgen hatte. An die verzweifelte Anstrengung, mit der er ihr den Mund zugehalten hatte, damit Oda sie nicht durch ihr Schluchzen verriet. An die Schritte auf der Treppe und den heftigen Schlag gegen ihr Versteck, in dessen Deckel tatsächlich ein Kreuz eingemeißelt war.
Amos verglich es in Gedanken mit dem X auf Höttsches Stirn. Währenddessen spürte er, wie Höttsches Blut ihrer beider Gewänder durchnässte und die Pausen zwischen seinen Atemzügen zu kleinen Ewigkeiten wurden. Der Mörder seiner Eltern lag auf ihm und bedeckte jeden Zoll seines Körpers, um ihn vor dem Todesengel des Inquisitors zu
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