OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger
einem angenehmen Traum.
Sie spürten bereits, wie sie in die Luft emporgewirbelt wurden – doch im nächsten Moment fühlten sie sich wie von riesenhaftenHänden gepackt und auf den Boden zurückgerissen. Und während sich Amos und Klara noch fragten, was das schon wieder zu bedeuten hatte, begann sich der Boden unter ihren Füßen wie rasend zu bewegen. Alles um sie herum verschwamm zu Nebelschwaden, mit so irrwitziger Geschwindigkeit riss es sie voran.
Oh mein Gott, das muss Faust sein , rief Amos aus. So hat er mich auch damals von Bamberg aus durch die Zeiten gezerrt .
Ehe Klara irgendetwas antworten konnte, kam der Boden unter ihnen wieder zum Stehen. Benommen schauten sie sich um und fanden sich abermals – oder immer noch – in Rogár. Doch jetzt standen sie bereits unmittelbar vor dem waagrechten Felsspalt, der aussah wie ein riesiger lächelnder Mund. Der Anblick beschwor in Amos den viel kleineren Felsspalt im Tannenholz über Kronus’ einstigem Hof herauf, aus dem der Gründleinsbach entsprang.
Doch sie waren hier auf der Heidenkuppe und nicht in Hohenstein, und vor ihnen stand wiederum – oder aufs Neue – Amos’ ebenbildlicher Ahn. Aber diesmal war es nicht Hoskan, sondern ein deutlich älterer Mann. Er sah aus, wie Amos in vielleicht zwanzig Jahren aussehen würde. Etliche Falten hatten sich bereits in sein Gesicht gekerbt, und er schaute sie beide ernst, ja geradezu flehentlich an. Neben ihm stand Klaras ebenbildliche Ahnin, gleichfalls schon gut dreißig Jahre alt und ihr doch so ähnlich wie eine ältere Schwester.
Ebenbildliche Nachfahren , sagte der oberste Priester von Rogár, den Geistern sei Dank, ihr seid gerade noch rechtzeitig gekommen. Denn seht nur, die Sonne sinkt bereits – nur wenige Stunden noch , dann wird Rogár untergehen. Seine Gedankenstimme klang angespannt, doch keineswegs unangenehm. Und vor allem schien es seine eigene Stimme zu sein.
Und unsere Kinder , fuhr die oberste Priesterin fort , die eines Tages unsere Nachfolger werden sollten, werden von den christlichen Ordensrittern abgeschlachtet werden – und mit ihnen alle Wächterund Priester von Rogár. Ihre Augen wurden dunkel vor Zorn und Kummer. Sie sprach mit jener honigweichen Mädchenstimme, die sich bei einer Frau von über dreißig Jahren allerdings recht sonderbar anhörte. Und der heilige Hain wird in Flammen aufgehen und zerstört werden, setzte sie hinzu, doch vorher sollt ihr als unsere ebenbildlichen Nachfahren erleuchtet werden – den Geistern sei Dank.
Ohne eine Antwort von Amos oder Klara abzuwarten, wandten sich die beiden obersten Priester um und krochen durch den Felsspalt in den Berg hinein, wobei sie mit einer Hand ihren Hut auf ihrem Kopf festhielten.
Klara warf Amos einen Blick zu, und er nickte ihr auffordernd zu. Sie mussten fürs Erste so tun, als ob sie mit allem einverstanden wären. Auf keinen Fall durften sie sich in Gedankensprache über einen Fluchtplan verständigen. Faust konnte bestimmt jedes Wort mit anhören, das sie auf diese Weise wechselten. Denn niemand anderes als er konnte es gewesen sein, der sie eben an der Flucht aus Rogár gehindert hatte. Er hatte sie hier im heiligen Hain festgebannt und fast sechshundert Jahre weit vorangeschleudert, in das Jahr 1089 A.D. Wenn überhaupt auf irgendeine Weise, dann könnten sie ihm allenfalls entkommen, wenn er nicht mehr damit rechnen würde, dass sie neuerlich zu fliehen versuchten.
So folgten sie ihren beiden ebenbildlichen Ahnen über die schmale Treppe zum »sehenden See« hinab. Dutzende Wächter waren dort unten bereits versammelt, und von allen Seiten eilten nun weitere Priester und Wächter herbei.
Inmitten des Sees drehte sich wie damals, als sie mit Karol hierhergekommen waren, das Floß im Kreis. Es sah aus wie die Pupille in einem riesengroßen Auge, das genauso leuchtend grün war wie Klaras Augen. Durch das Loch hoch oben im Fels fielen Sonnenstrahlen und hüllten das Floß und einen großen Teil des Sees in eine Säule aus goldenem Licht.
Das oberste Priesterpaar von Rogár stand nebeneinander am Seeufer, die Hälse zurückgebogen, die Arme ausgebreitet undnach oben gestreckt. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Lippen bewegten sich lautlos. Anscheinend riefen sie die Geister um Beistand an, und schon nach wenigen Augenblicken wurde ihr Flehen offenbar erhört.
Ihre Körper sanken genau gleichzeitig in sich zusammen. Zwei Wächter sprangen herbei und fingen den obersten Priester auf, zwei Wächterinnen
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