OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger

fassten die oberste Priesterin bei den Armen. Aus ihren Leibern, die die Wächter behutsam auf den Boden betteten, schwebten die geisterhaften Abbilder der beiden Priester hervor. Sie sahen ganz genauso wie vorher aus, nur durchscheinend wie Morgennebel. Noch immer trugen sie ihre spitzen Hüte und die wunderlichen Gewänder aus Luchs- und Katzenfell, aus Eulen- und Krähengefieder, und mit einem friedfertigen Lächeln schwebten sie auf Amos und Klara zu.
    Kommt mit uns, ebenbildliche Nachfahren . Der Priester nahm Amos, die Priesterin Klara bei der Hand. So schwebten sie einträchtig über den See und zum Floß hinüber, das sich majestätisch im Kreis drehte.
    Leg du dich dorthin . Der Priester zeigte auf die linke Seite des Floßes.
    Und du leg dich dorthin . Die Priesterin zog Klara zur rechten Hälfte des Floßes.
    Legt euch auf den Rücken , sagte der Priester, und schließt die Augen. Öffnet sie keinesfalls, was auch geschehen mag.
    Klara und Amos wechselten einen raschen Blick. Ihre ebenbildlichen Ahnen hielten sie mit eisernen Geisterhänden an den Handgelenken fest. Nun legten sie ihnen die freien Hände auf die Schulter und drückten sie auf das Floß herunter.
    Was habt ihr mit uns vor? , fragte Klara.
    Wir führen das Ritual der Erleuchtung aus , antwortete die Priesterin.
    Streckt euch aus und schließt die Augen , wies der Priester sie beide an. Amos und Klara gehorchten notgedrungen – die Sonne schien genau über ihnen durch das Felsloch und füllte die Kuppelüber dem sehenden See mit gleißendem Licht. So ist es gut , lobte der Priester . Ihr werdet keinerlei Schmerzen verspüren und auf eurer Haut werden die magischen Zeichen nicht zu sehen sein.
    Auf unserer Haut? , wiederholte Klara.
    Beunruhigt öffneten sie beide wieder ihre Augen. Gerade eben nestelten der Priester und die Priesterin aus ihren Gewändern einen funkelnden Gegenstand hervor. Amos und Klara kniffen ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Die Priester hielten nun jeder einen flachen Stein in der Hand, dreieckig zugeschliffen, mit blitzend scharfen Kanten. In der Mitte des Dreiecks prangte ein weit geöffnetes Auge.
    Schließt eure Augen .
    Mit einer Hand hielten die Priester sie bei der Schulter fest, die andere schoss mit dem Dreiecksstein auf Amos’ und Klaras Gesichter hinab. Sie beide spürten, wie eine kalte scharfe Spitze sich über ihrem linken Auge in ihre Stirn grub.
    Im nächsten Augenblick würden die obersten Priester damit beginnen, ihre Stirnen mit magischen Zeichen zu beschriften – und dann wären auch Amos und Klara für alle Zeiten bloß noch Gefäße und Werkzeuge der Geister, ihres eigenen Willens beraubt.
    Aber so weit würden sie es nicht kommen lassen, sagte sich Amos und machte neuerlich seine Augen auf. Ihr Verblendeten , schrie er in das Gesicht seines ebenbildlichen Ahns empor. Was ihr für Geisterkräfte haltet, kommt alles aus euch selbst!
    Vollkommen entgeistert glotzte der Priester auf ihn herunter.
    Wie zur Bekräftigung von Amos’ Worten schob sich gerade in diesem Moment eine schwarze Wolke vor die Sonne und unter der Felskuppel wurde es düster. Amos und Klara sprangen auf und ihre ebenbildlichen Ahnen taumelten zurück.
    Lasst euch erleuchten, wir befehlen es! , brüllte der oberste Priester mit dröhnender Bärenstimme.
    Stattdessen riss sich Amos den Geisterhut vom Kopf und warf ihn seinem ebenbildlichen Ahn ins Gesicht. Klara schaute erstaunt und machte es ihm im nächsten Augenblick nach.
    Unterwerft euch oder wir töten euch! , fauchte die oberste Priesterin mit heiserer Katzenstimme.
    Doch da hatten sich Amos und Klara bereits bei den Händen gefasst und schossen durch das Loch in der Felskuppel hoch in den Himmel empor. Schneller als jeder Sturmwind rasten sie durch Raum und Zeit. Schon versanken Rogár, die Heidenkuppe, das ganze Fichtelgebirge hinter ihnen, und in rasendem Flug jagten sie gen Westen – nach Würzburg zurück und ins Jahr 1499 voran. Kaum mehr als die Dauer eines Wimpernschlags schien vergangen, da schwebten sie bereits wieder durch die Kuppel in die Einsiedelei herab und sausten in ihre Körper zurück.
    »Bei allen guten Geistern«, rief ihnen Trithemius durch den Baumspalt entgegen, »warum nur habt ihr euch nicht erleuchten lassen, wie es vorgesehen war?«
    »Verblenden, Herr«, antwortete Amos, »wäre wohl das treffendere Wort.« Er erhob sich, und da er Klara noch bei der Hand hielt, zog er sie mit sich hoch.
    »Was willst du damit sagen?«, rief