OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger
spitzen Ende an und stemmte ihn so weit in die Höhe, dass Amos, auf dem Tisch kauernd, die Spitze zu fassen bekam. Dann kletterte auch sie zu ihm hinauf, und zusammen richteten sie den Balken senkrecht auf und lehnten ihn mit dem spitzen Ende an die Wand unter der offenen Kuppel. Nun brauchten sie nur noch auf den herausgesägten Tritten am Balken hochzusteigen und oben durchs Kuppeldach ins Freie zu klettern.
Und dann?, dachte Amos. Da draußen mussten Dutzende oder sogar Hunderte Purpurkrieger und Bücherjäger auf der Lauer liegen, ausgerüstet mit Schwertern und Gewehren, mit Armbrüsten und Bluthunden. Eigentlich hatten sie nicht die kleinste Chance, unbemerkt dort durchzukommen, sagte sich Amos – doch da kletterte er schon hinter Klara an dem Balken empor.
Oben angekommen, schwang sich Klara durch die Kuppel nach draußen, drehte sich gleich wieder zu Amos zurück und legte sich einen Finger auf den Mund. Im hellen Mond- und Sternenlicht kam sie Amos so unwirklich schön vor, dass er einen Moment lang nur zu ihr emporstaunen konnte.
Ich darf sie nicht verlieren, dachte er erneut. Auch wenn ich vielleicht nie mehr werde vergessen können, was sie heute gemacht hat. Und dann schwang er sich durch das weit geöffnete Kuppeldach und fand sich neben Klara auf der gut zwölf Fuß hohen Mauer wieder, die das gesamte Klostergeviert umgab.
Über ihnen glitzerte der Sternenhimmel, und unter dem Klosterhügel erstreckte sich die schlafende Stadt – ein Gewirr schattenhafter Dächer und mitten darin, funkelnd wie ein Lindwurm, der Main.
Der lang gestreckte hölzerne Flachbau, der sich unmittelbar von außen an die Mauer schmiegte, musste der Klosterstall sein. Falls dort unten irgendwo Kirchenkrieger auf der Lauer lagen, hattensie sich gut versteckt – jedenfalls konnte Amos nirgendwo einen Schatten oder ein silbriges Schimmern von Helmen oder Schwertern sehen.
Klara und Amos verständigten sich durch Handbewegungen und Blicke. In Gedankensprache hatten sie nicht mehr miteinander geredet, seit sie aus Rogár zurückgekehrt waren. Trithemius und Faust hätten sowieso alles mitbekommen, was sie auf dem Gedankenweg besprochen hätten. Aber das war nicht der einzige Grund, jedenfalls nicht für Amos: Die magischen Kräfte, die einem die Geister verliehen, waren mächtig und gefährlich. So unbekümmert wie vor ihrer Reise nach Rogár würde er sie bestimmt nie wieder einsetzen, und er spürte, dass Klara es genauso empfand.
Vom Mauerfirst bis hinab zum Stalldach mochten es allenfalls vier Fuß sein. Klara kauerte sich auf den äußeren Mauerrand, klammerte sich mit beiden Händen daran fest und ließ sich mit den Füßen voran an der Mauer hinunter. Dabei schaute sie Amos aufmunternd an, bis ihm klar wurde, dass er wiederum ihrem Beispiel folgen sollte. Noch immer fühlte er sich wie innerlich abgestorben – als ob mit dem Buch auch alles andere verbrannt wäre, was ihm jemals wichtig gewesen war. Alles, was ihm früher einmal das Gefühl gegeben hatte, lebendig zu sein, ein Mensch mit Gefühlen und Fantasie.
Doch ein Gefühl war in ihm übrig geblieben – die Angst, nun auch noch Klara zu verlieren. Und so schwang er sich gleichfalls über den Mauerrand und kletterte auf das Stalldach hinab.
Es war ein einfaches Flachdach, mit verwitterten Bohlen gedeckt. Klara kauerte ziemlich in der Mitte darauf, und im hellen Mondlicht glitzerten ihre Augen wie grüne Edelsteine. Sie deutete auf die Bohle vor ihren Knien, und ihre Lippen formten lautlos eine Botschaft, die Amos auch ohne Magie verstand: »Hier können wir durch.«
Warum will sie gerade dort hinab?, fragte sich Amos. Die Purpurkrieger hatten ja bestimmt nicht das gesamte Klosterumstellt – dafür hätten sie eine Streitmacht von etlichen hundert Soldaten gebraucht. Also würden sie hauptsächlich alle Ein- und Ausgänge besetzen, damit niemand im Schutz der Nacht das Weite suchen konnte. Aber zudem würden sie doch bestimmt gerade den Klosterstall bewachen, nachdem sie dort früher am Abend gewaltige Lasten abgeladen hatten – Waffen vielleicht und was man sonst noch für die Erstürmung eines so ausgedehnten Anwesens brauchte. Und selbst wenn sie nur einen oder zwei Soldaten im Stall postiert hatten, um ihre Ausrüstung zu behüten – wie um Himmels willen wollte Klara unbemerkt an ihnen vorbeikommen?
Auf Zehenspitzen schlich Amos über Balken und Bohlen zu ihr und kauerte sich neben sie. Klara gab ihm durch Handbewegungen zu verstehen, dass das Brett
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