Orangenmond
…«
»Wenn du nichts dagegen hast, gehe ich rein, mir ist kalt.«
Georg schien sie nicht zu hören, er hatte ihr den Rücken zugewandt und schaute über die Dächer.
Im oberen Wohnzimmer, das gleichzeitig als Esszimmer diente, leuchtete die türkisblaue Stofftapete im Licht der letzten roten Strahlen, die durch das Fenster hereinfielen.
Die Tapete hatte Milena ausgesucht, die Möbel waren ein buntes Durcheinander aus Filmrequisiten von ihr und aus Georgs Zeit als Requisiteur, die ganze Wohnung sah noch genauso aus wie zum Zeitpunkt ihres Todes. Nur die Fotos, die überall von ihr gehangen hatten, hatte Georg abgenommen und in sein Schlafzimmer gebracht. Sein Milena-Gedächtnis-Schrein, seine Zuflucht.
»Wenn Papa und ich am Wochenende manchmal bei ihm im Bett liegen, ist Mama überall«, hatte Emil ihr einmal er zählt. Da musste er sieben oder acht gewesen sein und hatte aus unerfindlichen Gründen ein paar sehr gesprächige Minuten mit ihr verbracht. »Wir reden über die Bilder. Wann sie gemacht wurden und wie sie darauf aussieht und so.«
»Und, findest du das schön?«, hatte Eva ihn gefragt.
»Nein. Es ist traurig, weil Mama irgendwie so toll und lieb aussieht, dass man sie am liebsten gleich drücken möchte, aber wir können sie ja nicht mehr drücken. Und Papa fragt mich dann so viel und ist immer ganz still, wenn ich sage, dass ich mich daran nicht erinnern kann.«
Eva stützte die Handflächen auf den langen Tisch und starrte auf die dunkle Tischplatte, als ob sie eine Landkarte studierte. Emil war das Kind, das sie eigentlich mit Georg hätte haben sollen, er ahnte den Neid, den sie auf Milena hatte. Kinder spüren so was. Eva schüttelte den Kopf, vielleicht war das Quatsch, und Emil war einfach nur ein stilles, durch den frühen Tod seiner Mutter leicht traumatisiertes Kind.
Sie schob einen der Stühle zurecht. Die Stühle waren ebenfalls ein Sammelsurium von verschiedenen Drehs. Ge polsterte Sessel ohne Armstützen, verschieden in Farbe und Abnutzungsgrad, drei Drehstühle aus den Fünfzigerjahren, auf denen man nicht ohne Gefahr Platz nehmen konnte, dafür mit gehäkelten Kissen auf den Sitzflächen. Nicht kitschig, nicht spießig, sondern cool. Alles bei Milena war cool. Der kleine Speisenaufzug, der in die Küche führte, die gebogene Stehlampe mit dem Betonklotz als Sockel und auch die Getränkebar auf einem zusammenklappbaren Teewagen aus den Siebzigern. Braun und scheußlich. Genau so einen hatten sie zu Hause in Henstedt-Ulzburg gehabt. Das war ihr bis jetzt nicht aufgefallen. Ob Milena den ihren Eltern abgeschwatzt hatte? Eva würde die bei den bestimmt nicht danach fragen. Die Aussicht, mehr über die Herkunft eines hässlichen Teewagens zu erfahren, war nicht wichtig genug, um ihr jahrelanges Schweigen zu brechen.
Sie hörte Georg von der Terrasse hereinkommen.
»Willst du nicht wenigstens mal die Drehstühle austauschen?«, fragte Eva, ohne ihn anzusehen. »Die Kugellager sind ausgeleiert, und die Sitzflächen fallen manchmal einfach ab, wenn man sich darauf niederlässt. Die sind lebensgefährlich!«
»Mein Gott, wie kannst du jetzt an die Stühle denken? Ich habe gerade wirklich anderes im Kopf. Aber da du schon fragst: Die Stühle bleiben. Alles bleibt!«
Eva schaute noch immer auf die Tischplatte. Georg stand hinter ihr. Nach ein paar Sekunden strich er ihr mit einer Hand leicht über den Rücken. »Sorry. Ich bin fertig mit den Nerven. Sollte nicht so hart klingen. Ich gehe mal in den Keller, muss was suchen. Wenn du willst, kannst du ja mal nach Emil schauen.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er an ihr vorbei, die Treppe hinunter.
Sie sah ihm nach. Er hatte immer noch diese verdammt gute Figur. War das genetisch bedingt, oder warum guckte sie mittlerweile jedem Typ auf den Hintern und freute sich, wenn die Hose darüber gut saß, und noch mehr, wenn sie zudem noch eine schmale Taille und breite Schultern entdecken konnte? Je älter sie wurde, desto mehr achtete sie darauf. Biologische Uhr, schnell noch ein Kind bekommen, mit einem, der in der Lage war, seinen Samen an die richtige Stelle zu … Aber wenn sie keine von diesen Müttern wer den wollte, die mit Anfang fünfzig am Schultor standen, sollte sie sich mit ihren achtunddreißig Jahren beeilen. Georg fiel ja nun aus!
Im Wohnzimmer saß Emil im Schneidersitz auf der gigantischen blauen Sofa-Landschaft, die Milena von einem befreundeten Ausstatter gekauft hatte und die sich trotz ihrer Ausmaße in dem großen
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