Orangenmond
mischte Eva sich ein.
»Ich weiß ja auch nicht mehr so viel!«
»Genau.« Sie beugte sich vor, damit Georg sie hörte. »Dein Papa hat sich nur Sorgen gemacht, weil er nicht wusste, wo du bist, und wenn man sich Sorgen macht und vielleicht sogar Angst um den anderen hat, wird man manchmal etwas ungerecht!«
»Dass der dich nicht verklagt hat, ist ja ein Wunder«, sagte Helga. »Schweizer klagen ja gerne mal. Mein Exmann Bruno, also der erste, war auch Schweizer, der …«
»Wegen der kleinen Schramme am Hals? Ach was! Wir sind als gute Freunde auseinandergegangen.«
»Wie lange dauert es noch?«
»Lange.«
»Aber kann ich dann sofort in den Trichter? Es ist so warm!«
»Ich weiß nicht, ob wir heute noch zum Trullo fahren, aber ich stell die Klimaanlage höher.«
»Aber nicht zu hoch, da frieren mir ja die Gräten ein, und ich bekomme Migräne …«
»Wieso sagst du Gräten, Oma? Das sagt keiner, den ich kenne.«
Eva hörte dem Gedankenaustausch von Helga, Georg und Emil noch eine Weile zu, dann zog sie ein paar von den quadratischen Werbezetteln der Perugina-Schokoladenfabrik aus ihrer Handtasche und brachte Emil bei, wie man eine Schachtel mit einem Deckel bastelt. Er hatte vieles von Milena, jedoch nicht ihre Ungeduld geerbt. Schritt für Schritt falzte und faltete er ihre Anweisungen nach.
»Darf ich jetzt was hören?«, fragte er höflich, nachdem die Schachtel vorn von Helga und Georg bewundert worden war.
»Natürlich!«
Evas Gedanken schweiften ab zu Milena. Ihre Schwester war mutig gewesen, wenn es darum ging, einer realen Gefahr gegenüberzutreten. Auf der anderen Seite entwickelte sie manchmal beängstigende Fantasien, die sie bereitwillig weitererzählte. Als Kind, aber auch noch als Erwachsene.
Es war im August, neun Monate zuvor erst hatten sie die Ruinen der Trulli besichtigt, nun waren sie fertiggestellt. Es gab noch längst keinen Emil, und am Horizont zeichnete sich noch nicht das kleinste Anzeichen eines Georg ab.
Nach drei Serienjahren als »Julia« hatte Milena gerade ihren ersten Fernsehfilm abgedreht, die Angebote für Kinofilme häuften sich auf dem Schreibtisch ihrer Agentin Christa, die sich binnen eines Jahres das ersehnte BeetleCabriolet würde kaufen können.
Ihre Schwester hatte gerade einmal keinen Freund, worüber sie absolut nicht unglücklich war.
»Den Trullo müssen wir allein einweihen, nur wir beide, ich könnte niemand anders darin ertragen als dich«, hatte Milli ihr geschmeichelt und sie zu einem Kurzurlaub in die neu renovierten Zwergenmützenhäuschen überredet. So misstrauisch Eva gegenüber Mimmo gewesen war, der kleine Mann mit dem angewachsenen Zigarrenstumpen hatte eine wahre Meisterleistung vollbracht.
Die drei einzeln auf dem niedrigen Felsplateau stehenden Trulli waren zu einer Einheit zusammengewachsen. Den größten hatte er mit einem Anbau versehen, der sich dort, wo einmal der Eingang gewesen war, nahtlos an die Rundungen des alten Baus schmiegte. Unter der hohen Trullokuppel, in die er ein kleines Fensterchen eingelassen hatte, war ein Schlafzimmer entstanden, daneben ein Bad mit einer Dusche, die mitten aus den Steinen zu kommen schien. Im Inneren des Hauses konnte man an einem ge mauerten Bogen sehen, wo der Trullo anfing, doch auch der leere Anbau wirkte nicht neu und steril, sondern wie frisch durchgeputzt und fast schon gemütlich. In dem rechteckigen hohen Raum gab es eine komplette Küche mit Herd, Kühlschrank und Spülmaschine, Platz für einen großen Esstisch und für ein Sofa vor dem Kamin, den Mimmo mit einem antiken Holzbalken über dem Rauchfang geschmückt hatte. Überhaupt hatte er kleine Details eingebaut, die Eva und Milena entzückten. Einige kleine Nischen in der Wand, für Vasen oder auch nur eine schöne Muschel, ein langes Steinsims über der Küchenzeile, zwei kürzere neben der Tür am Eingang. Auf dem Boden waren große abgetretene Steine aus einem über hundert Jahre alten Haus verlegt, die Mimmo Milena für einen Freundschaftsaufpreis überlassen hatte.
Die beiden enger zusammenstehenden Trulli waren verbunden worden, Mimmo hatte ein Badezimmer gebaut, das jeweils durch eine Tür von beiden Seiten erreicht werden konnte. Schloss man diese Tür, hatte man den Eindruck der perfekten Abgeschiedenheit einer Mönchszelle. Hier hatte er größere Nischen in die Wände eingelassen, die man als Bücherregal nutzen konnte. Doch für mehr als ein großes Bett, eine Kleiderstange und einen Ofen boten die zwölf
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