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Orangenmond

Orangenmond

Titel: Orangenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gerstenberger
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anfassen«, versuchte Eva ihn aufzumuntern.
    Sie stiegen aus und gingen auf das vertraute Schild mit der blauen Welle zu, das wie früher über der Fensterfront hing: »Lo Scoglio – Pesce & Frutti di mare«. Für Sergio war vor langer Zeit schon klar gewesen, dass er den Laden seines Vaters übernehmen würde. Eva hatte sich immer heimlich geschüttelt, wollte ihr jedes Jahr hübscher werdender, braun gebrannter Sergio mit der glatten Brust wirklich sein Leben lang zwischen tropfenden Kisten, gestoßenem Eis und glitschigen Fischen stehen? In diesem strengen Geruch von allerlei Meeresgetier, das einen mit bösartig verzogenen Mündern und aus toten Augen zu beobachten schien? Wollte er den ganzen Tag unter dem alten Ventilator mit den herunterhängenden puscheligen blauen Bändern stehen, die langsam über die Ware strichen, um die vielen Fliegen fernzuhalten?
    Sie drückte die Klinke hinunter, das alte Klink-Klonk der Glocke versetzte ihr einen kleinen Stich in der Brust, als sie gemeinsam mit Georg das Geschäft betrat. Sie war nervös. Würde sie ihm jetzt gleich gegenüberstehen? Was wäre schlimmer, wenn er immer noch in die erste Kategorie gehören würde, schlank und charmant wie damals, oder in die zweite Kategorie abgefallen wäre: alt und fett?
    Eva schaute sich um. Außer einer älteren Kundin in weißen Leggings war niemand zu sehen. Kein Schock, keine Erinnerungen, denn nichts sah aus wie früher. Keine offenen Kisten, kein altersschwacher Ventilator, kein aufdringlicher Geruch. Stattdessen stand da jetzt eine penibel saubere Vitrine aus Glas und Chrom, zur Verkaufsseite hin offen, dahinter Schneidebretter aus Plastik, zwei Waagen, eine moderne Kasse. Der früher immer nasse dunkle Steinfußboden hatte weißen Fliesen weichen müssen, keine Küchenuhr, keine verstaubten Konservendosen auf Regalbrettern an der Wand. Nur das Kreuz über der Tür zum Hinterzimmer war geblieben. Unantastbare Erinnerung an den Papa vermutlich.
    Die Klimaanlage surrte, Eva erschauderte im kalten Luftzug. Jemand kam durch die Tür mit dem Kreuz. »Ecco!«
    Oje, die zweite Kategorie. Warum gingen Männer nur immer so in die Breite, je älter sie wurden? Sie selbst hatte vielleicht eine Kleidergröße mehr als damals, weil sie noch überraschende zehn Zentimeter gewachsen war. Sergio dagegen war bestimmt dreimal so schwer wie früher, seine Haare wurden an den Schläfen grau, und er trug eine Brille. Sein Hals und seine Schultern waren vorgebeugt, fast sah es aus, als habe er einen kleinen Buckel. Sein Blick ging über sie hinweg, er wandte sich wieder der Dame mit den weißen Leggings zu, lachte und legte einen weiteren rotschuppigen Fisch auf die Waage. »Ich bitte Sie, Signora , wollen Sie heute Abend hungern?«, verstand Eva, und an seinem flirtenden Ton erkannte sie endlich seinen Charme von früher wieder.
    Die Türglocke schepperte erneut.
    »Helga sagt, ihr sollt keinen Fisch kaufen, der wird in der Wärme schlecht!«, rief Emil, den Kopf zwischen Tür und Rahmen. »Ich soll ihr Chips mitbringen. Gibt es Chips hier?« Er kam herein und warf mit einer ruckartigen Bewegung seines Kopfes die Haare zurück. Sergio schaute auf. Als er Emil sah, hielt er inne. Der Fisch, den er mit Schwung auf das Wachspapier in seiner Hand legen wollte, verharrte in der Luft. Jetzt prüfte er die Gesichter der Gruppe, die so plötzlich in seinem Laden aufgetaucht war. Er grinste, und seine Augenbrauen hoben sich, als er Eva erkannte, er strahlte über seine mopsigen Wangen, als sein Blick zurück zu Emil ging.
    »No, non è vero! Non credo ai miei occhi …« Das ist nicht wahr! Ich traue meinen Augen nicht …
    Er entschuldigte sich bei der Frau, die schon ihr Portemonnaie hervorgeholt hatte, wischte sich an einem Lappen die Hände ab und kam hinter der Vitrine hervor. »Äwa!« Er umarmte Eva, ohne seine Hände dabei einzusetzen, er drückte sie an seine breite Brust, die auch nichts mehr mit dem schlanken drahtigen Jungen von damals zu tun hatte, den sie von klein auf kannte.
    »Was für eine Ähnlichkeit …« Er machte seinen Rücken noch ein bisschen krummer und guckte zu Emil hinunter, der mit seinen großen grünen Augen zu ihm hochstarrte und die Arme vor der Brust verschränkte.
    »Unglaublich – Miläna, das ist Miläna!«, rief Sergio immer wieder auf Italienisch, und bei jedem Ä aus »Miläna« meinte Eva zu spüren, wie Georg hinter ihr zusammenzuckte. »Das ist aber nicht deiner?«
    »Nein!« Eva musste an sich halten, um

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