Orchideenhaus
Hochsommerlichts geschlossen, und der Raum lag im Halbdunkel. Auf dem langen französischen Eichentisch lehnte ein Zettel an einer Schale mit frischem Obst.
Liebe Madame Julia,
ich hoffe, Sie finden das Haus in dem von Ihnen erwarteten Zustand vor. Ich habe den Kühlschrank aufgefüllt, und auf dem Herd steht eine Kasserolle. Ich komme morgen wie üblich um zehn Uhr. Rufen Sie mich bitte an, wenn Sie zuvor etwas brauchen sollten.
Willkommen zu Hause, Madame,
Agnes
Julia nahm einen reifen Pfirsich aus der Schale, biss hinein und trat an die Tür zur Terrasse. Das alte Haus befand sich in einer belebten, schmalen Straße auf einem Hügel. Der herrliche Ausblick wurde nicht verstellt von anderen Gebäuden, der Hügel war mit Kiefern und Olivenbäumen bewachsen und erstreckte sich Hunderte von Metern hinunter zum blau schimmernden Meer.
Unter der mit dicken dunkelblauen Trauben bewachsenen Pergola hatte Julia den größten Teil der Zeit verbracht, den Zikaden, dem übenden Xavier und Gabriel gelauscht, dessen Kreischen vom Swimmingpool herüberdrang.
Jetzt hörte sie nur noch die Zikaden; Julia war allein. Hier konnte sie sich nicht vor den Erinnerungen verstecken. Julia sank auf einen schmiedeeisernen Stuhl.
Vor nur einem Jahr … Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit.
Jener schreckliche, alles verändernde Tag hatte ganz normal begonnen, ohne Vorwarnung oder Ahnung dessen, was geschehen würde.
Ein heißer Sonntag im Juli …
Julia hatte ihre Sachen für den Vormittagsflug nach Paris gepackt, wo sie mit dem Orchestre de Paris in der Salle Playel auftreten und Rachmaninows Konzert Nr. 2 , ihr Lieblingsstück, spielen sollte. Sie erinnerte sich, dass sie ihre Taschen
nach unten gebracht hatte, um auf das Taxi zu warten, froh darüber, dass sie nur eine Nacht wegbleiben würde: Am folgenden Nachmittag wäre sie zum Tee wieder da. Der Abschied von Gabriel fiel ihr schwer, andererseits tröstete sie sich damit, dass dies eine gute Gelegenheit für ihre »Jungs« war, Zeit miteinander zu verbringen. Wenn Xavier zu Hause war, saß er für gewöhnlich am Klavier und wurde wütend, wenn Gabriel ihn störte. Also lernte Gabriel, seinen Vater, dessen Künstlertemperament ihn unberechenbar machte, in Ruhe zu lassen.
Sonntags war Agnes nicht da, um sich um Gabriel zu kümmern, also übernahm Xavier das. Ein Dirigentenfreund von Xavier hatte die beiden ein Stück weiter die Küste hinauf zum Schwimmen und Grillen eingeladen. Dort konnte Gabriel mit anderen Kindern spielen.
» Maman «, sagte Gabriel und schlang die Arme um ihren Hals. » Je t’aime . Komm schnell wieder nach Hause. Du fehlst mir.«
»Du mir auch, petit ange . Viel Spaß bei der Party, und sei brav.«
»Wir fahren mit Papas schnellem neuem Sportwagen, Maman .« Gabriel wand sich aus Julias Umarmung und begann, wie ein Motor brummend im Flur herumzulaufen.
» A bientôt, chérie «, sagte Xavier. »Ich wünsche dir einen guten Auftritt und freue mich schon auf das Wiedersehen.« Er drückte Julia an sich und küsste sie.
» Je t’aime, chéri . Pass gut auf Gabriel auf.«
»Ich hoffe, dass er auf mich aufpasst«, erwiderte Xavier lachend, und Gabriel stellte sich neben seinen Vater, um ihr nachzuwinken.
In ihrer Pariser Garderobe wählte Julia Xaviers Handynummer unmittelbar vor ihrem Auftritt. Es meldete sich wie so oft nur die Mailbox. Wahrscheinlich waren sie noch nicht vom Grillen zurück. Sie würde es in der Pause wieder versuchen.
Sie war nervös, als sie die Bühne betrat und vom Publikum mit Applaus empfangen wurde. Doch sobald sie am Klavier saß, verschwand die Angst. Ihre Finger berührten die Tasten, und die ersten Takte des Konzerts erfüllten den Raum.
Am Ende wusste sie, dass sie noch nie besser gespielt hatte. Das Publikum, das der gleichen Meinung zu sein schien, bedankte sich mit stehenden Ovationen. Julia verließ die Bühne mit einem Strauß roter Rosen in euphorischer Stimmung. Die Menschen drängten sich um sie und überschütteten sie mit Lob.
»Madame Forrester«, hörte sie die Stimme ihres Managers. Sein ernstes Gesicht hob sich deutlich von denen der lächelnden Gratulanten ab. Er bahnte sich einen Weg zu ihr.
»Madame Forrester, würden Sie bitte mit mir kommen?«
Er führte sie zu seinem Büro und schloss die Tür hinter sich.
»Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«
Er sagte ihr, dass die Gendarmerie von Saint-Tropez angerufen habe, und gab ihr die Nummer des Inspektors, mit dem sie sich umgehend in
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