Orchideenhaus
Kontrolle ging.
Bei der Landung in Toulon stellte Julia überrascht fest, dass sie sich weniger Gedanken über das vor ihr Liegende machte als über ihren Abschied von Kit. Sie wusste nicht, wann sie ihn wiedersehen würde. Wie sehr er ihr bereits nach drei Stunden fehlte, überraschte sie.
Als ihr der vertraute Duft der Kiefern in die Nase stieg, hätte sie am liebsten kehrtgemacht und wäre wieder zu Kit zurückgeflogen. Im Mietwagen auf der Küstenstraße wurde ihr klar, warum sie sich so gern in Kits Arme geflüchtet hätte: Sie fürchtete sich vor dem, womit sie in weniger als einer Stunde konfrontiert wäre.
Doch sie musste Abschied nehmen, und zwar allein.
Auf der Küstenstraße herrschte dichter Touristenverkehr. Julia lenkte den Wagen durch die hübschen Urlaubsorte Bormes de Mimosa, Lavendou und Rayol Canadel, wo gerade die Familien vom Strand in die belebten Bars und Cafés strömten. Im August traf ganz Frankreich sich im Süden, weshalb man nur langsam vorankam.
Die kurvige Straße begann sich nach oben zu schlängeln, so dass sich herrliche Ausblicke auf das azurblaue Meer eröffneten. Nach der Kargheit der Landschaft von Norfolk, deren Schönheit Julia nun zu schätzen wusste, bot die Côte d’Azur Spektakuläres und Farbenfrohes. Es war, als vergliche man
einen Rohdiamanten mit einem raffiniert geschliffenen und gefassten Saphir, aber beide besaßen ihren Reiz.
In La Croix Valmer wählte Julia die steile, schmale Straße zu dem auf einem Hügel gelegenen Ort Ramatuelle. Je näher sie ihm kam, desto nervöser wurde sie. Sie hatte nur selten das Bedürfnis nach einem Drink; jetzt hätte sie sich einen gewünscht.
Wie üblich war der Ort voll mit Touristen, so dass Julia den Wagen ein ganzes Stück von ihrem Domizil entfernt abstellen musste. Sie holte die Tasche aus dem Kofferraum des Autos und ging zu Fuß den schmalen Weg zum Haus, das sich nicht weit vom Hauptplatz entfernt befand. Ramatuelle bestand aus einem Labyrinth enger Sträßchen, versteckter Gassen und pittoresker alter Steinhäuser, über deren Mauern sich Kaskaden üppiger lilafarbener Bougainvillea ergossen.
Die Strände von Pampelonne und Saint-Tropez lagen nur zehn Minuten entfernt, was bedeutete, dass es hier weniger ländlich zuging als in anderen Orten und eine ganze Reihe teurer Lokale eine schicke Klientel anlockte. Julia gefiel das Städtchen am besten im Winter, wenn es den Einheimischen gehörte.
Sie blieb vor den schmiedeeisernen Toren stehen und versuchte, sich zu sammeln …
Jetzt wird jeden Augenblick die Tür aufgehen. Gabriel, der weiß, dass ich komme, wird mit Agnes am Fenster warten, bereit, zu mir hinunterzulaufen.
Ich werde ihn an mich drücken und seinen Duft einatmen, eine Mischung aus dem von Xavier, mir und ihm selbst. Ich werde über seine frisch gewaschenen dunklen Haare streichen, die viel zu lang sind für einen Jungen, aber ich schaffe es einfach nicht, ihm die hübschen weichen Locken abzuschneiden.
» Tu es rentrée. Je t’aime, Maman«, wird er sagen, wenn er sich an mich klammert wie ein kleiner Affe und wir gemeinsam die Stufen hinaufgehen. Agnes wird uns mit einem Lächeln begrüßen, und ich werde mich mit Gabriel auf dem Schoß an den Küchentisch setzen, wo sie mir berichten, was sich in meiner Abwesenheit ereignet hat.
Irgendwann wird er von meinem Schoß klettern, um mir voller Stolz ein Bild zu zeigen, das er für mich gemalt hat. Das Papier ist aufgeworfen von der grob aufgetragenen Farbe, aber er weiß, dass ich mich darüber freue.
Dann werden wir hinausgehen, und Gabriel wird sich auf sein Dreirad setzen und wie ein Wilder um die Terrasse herumfahren, um mir zu zeigen, wie gut er das kann. Wenn er müde ist, wird er zurück auf meinen Schoß klettern, den Daumen in den Mund stecken und sich an meine Brust kuscheln. Ich werde ihn zu seinem Bettchen tragen, ihn vorsichtig hineinlegen, mich über ihn beugen, ihn auf die Stirn küssen, ihm über den Kopf streichen, ihm mit leiser Stimme sagen, wie sehr ich ihn liebe, und was wir nun, da ich wieder zu Hause bin, gemeinsam unternehmen können. Kurz vor dem Einschlafen wird er ein Auge aufmachen, um nachzusehen, ob ich noch da bin.
Und ich werde da sein … immer.
Julia öffnete die Tür, bereit, in die Vergangenheit und den Schmerz zurückzukehren.
Sie blieb im Flur stehen, erstaunt über den ganz eigenen Geruch, der lange unbewohnten Häusern anhaftet. Die Fensterläden in der Küche waren wegen des grellen
Weitere Kostenlose Bücher