Orchideenhaus
Verbindung setzen solle.
»Wissen Sie, warum?«, fragte Julia, als sie mit zitternder Hand den Hörer nahm.
»Madame, die Einzelheiten kenne ich nicht. Ich lasse Sie jetzt allein, damit Sie in Ruhe mit ihm sprechen können.«
Er verließ das Büro, und sie verlangte den Inspektor, dessen Name auf dem Zettel stand. Sie wurde sofort mit ihm verbunden. Er teilte ihr mit, was passiert war.
Der Wagen war in einer engen Kurve von der Straße abgekommen, den steilen Abhang hinuntergeschlittert, in Flammen aufgegangen und hatte die trockenen Büsche in Brand gesetzt.
Irgendwo in der verkohlten Landschaft lagen die sterblichen Überreste ihres Mannes und ihres Sohnes.
Eine Woche später, als Julia sich schon in England befand, hatten die französischen Behörden sie informiert, dass sie in der Nähe des Wagens die Knochen eines etwa zweijährigen Kindes gefunden hätten. Vermutlich sei Gabriel aus dem Auto geschleudert worden, als dieses den Abhang hinuntergerollt war.
Der Inspektor erklärte Julia, leider sei eine zweifelsfreie Identifikation unmöglich, weil das Feuer alle DNS-Spuren vernichtet habe.
Julia konnte sich kaum noch erinnern, was sich nach jenem ersten, schrecklichen Anruf aus der Pariser Salle Playel ereignet hatte. Irgendwann war Alicia eingetroffen und hatte sie mit nach England genommen.
Nach zwei Tagen in Alicias Gästezimmer hatte Julia gewusst, dass sie das Kreischen und Lachen von Alicias Kindern nicht ertragen würde, und war der Stille wegen in das winzige Cottage in Blakeney gezogen.
Julia zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren und die Tränen abzuwischen. Sie durfte sich nicht von den Erinnerungen überwältigen lassen, weil etliches in Frankreich zu erledigen war. Je eher sie es anpackte, desto schneller konnte sie abreisen.
Sie ging in die Küche, erhitzte die Kasserolle, setzte sich mit einem Glas Wein an den Tisch und zwang sich zu essen.
Anschließend nahm sie auf dem Klavierhocker im Wohnzimmer
Platz, legte die Finger auf die Tasten und begann, Paganini zu spielen.
Julia spielte für sie, für ihren Mann und ihren geliebten Sohn. Und versuchte zu glauben, dass sie sie, wo immer sie auch sein mochten, hören konnten.
Später öffnete sie die Tür zu ihrem und Xaviers Schlafzimmer, holte ein Nachthemd aus ihrer Tasche, ohne in die Nähe des Schranks zu gehen, in dem die Kleidungsstücke ihres Mannes hingen, und legte sich ins Bett.
Julia sah sich um. Sie hatte diesen Raum immer geliebt, vielleicht deshalb, weil er ihr gehörte, ein Zufluchtsort war und kein anonymes, für eine Nacht gemietetes Hotelzimmer. Sie betrachtete das Gemälde, das sie und Xavier in einer Galerie in Gassin erstanden hatten, und entdeckte seine Bürste auf der Kommode unter dem Spiegel.
Davor hatte sie sich am meisten gefürchtet: vor der ersten Nacht allein in ihrem Bett. Doch sie blieb ruhig. Möglicherweise deshalb, weil sie akzeptiert hatte, dass weder Xavier noch ihr geliebter kleiner Engel hierher zurückkehren würde.
Nichts, was sie empfand, tat oder sagte, würde sie wiederbringen. Das stille Haus, in dem sie als Familie gelebt und geliebt hatten, war der endgültige Beweis dafür.
52
Als Julia am nächsten Morgen aufwachte, stellte sie erleichtert fest, dass es fast neun Uhr war und sie die Nacht durchgeschlafen hatte.
Eine Stunde später gesellte sich ihre Haushälterin Agnes zu ihr auf die Terrasse. Julia stand auf und umarmte sie.
» Ça va, Agnes? «
» Ça va bien, Madame Julia. Et vous? «
»Besser, danke. Kommen Sie, trinken Sie einen Kaffee mit mir«, fuhr Julia in Französisch fort, der Sprache, die sie hier immer gesprochen hatte und die ihr jetzt fremd und unnatürlich vorkam.
Agnes setzte sich.
»Danke, dass Sie sich um das Haus gekümmert haben. Es ist alles prima.«
»Keine Ursache, Madame Julia. Sie sehen gut aus.«
»Ich beginne zu akzeptieren, was passiert ist, weil mir keine andere Wahl bleibt. Der Schmerz wird nie ganz verschwinden…« Julia schluckte. »Da wären ein paar Dinge, die ich allein nicht schaffe. Könnten Sie mir dabei helfen?«
»Natürlich, Madame.«
»Ich werde nur ein paar Tage bleiben und dann wieder nach England zurückkehren. Ich habe vor, das Haus zu verkaufen. «
»Madame!«, rief Agnes entsetzt aus. »Das ist Ihr Zuhause!«
»Ich weiß, Agnes, aber es muss sein. Hier erinnert mich alles an mein früheres Leben.«
» Verstehe.« Agnes nickte ernst.
»Könnten Sie für mich Xaviers Schrank ausräumen, wenn ich
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