Orchideenhaus
der Hand in den Mund lebten, bis Ferdinands Werke sich endlich zu verkaufen begannen.
Das Stadthaus am Chester Square hatte Christina von einer Großtante geerbt, der einzigen Verwandten, die Mitleid mit ihr zu haben schien. Somit besaß das junge Paar immerhin ein Dach über dem Kopf.
Weil die beiden kein Geld für die Innenausstattung besaßen, moderten die Vorhänge vor sich hin, und die Möbel stammten aus billigen Läden. Da es auch keine Bediensteten gab, hätte das gesamte Haus einer gründlichen Reinigung, am besten mit jeder Menge Desinfektionsmittel, bedurft.
»Inzwischen ist Pup schrecklich reich. Seine Gemälde verkaufen sich für Hunderte von Pfund, und sie könnten sich alles leisten, was sie wollen«, erklärte Venetia Olivia. »Aber ihnen gefällt das Haus, wie es ist. Und mir auch.«
Venetia absolvierte die Saison der Familie ihrer Mutter zum Trotz, die bestürzt darüber war, dass die Tochter eines gewöhnlichen Malers bei Hof vorgestellt werden durfte.
»Weil ich nun mal präsentiert wurde, kann ich tun und lassen, was ich will, Darling«, hatte Venetias Mutter Christina eines Tages bei einem Martini in Gesellschaft der Mädchen gekichert, bevor diese zu einem Ball aufgebrochen waren. »Meine Schwester Letty ist entsetzt – natürlich erlebt ihre Tochter, die grässliche Deborah, diese Saison ebenfalls als Debütantin. Zu allem Unglück ist meine Tochter schön, während die ihre Pickel hat, zu dick und ausgesprochen dumm ist.«
Olivia hatte den Eindruck, dass Venetia eher die Mutterrolle für Christina spielte als umgekehrt.Vielleicht war Venetia ob ihrer exzentrischen Herkunft gezwungen gewesen, sich eine für ihr Alter ungewöhnliche Klugheit und einen Sinn fürs Praktische anzueignen. Jedenfalls vereinte sie in sich auf faszinierende Weise Künstlerseele und gesunden Menschenverstand, und Olivia bewunderte sie.
Venetia erwähnte ganz beiläufig die Namen von Berühmtheiten wie Virginia Woolf, die mit ihrer Geliebten Vita Sackville-West oft zum Tee vorbeigeschaut hatte, als Venetia ein Kind war. Der Glanz des Bloomsbury-Kreises und der Kontakt der Burroughs’ zu ihm faszinierten Olivia. Obwohl die Gruppe sich inzwischen fast aufgelöst hatte, herrschte in dem Haushalt nach wie vor radikales Gedankengut vor, und Venetia war eine leidenschaftliche Verfechterin der Frauenrechte und des Kampfs um Gleichberechtigung. Sie wusste bereits, dass sie den Namen ihres Mannes bei einer eventuellen Heirat nicht annehmen würde.
Olivia hatte die Saison bislang nur Spaß mit gleichgesinnten Freunden und Nahrung für ihren wachen Geist gebracht, so dass sie nun, Ironie des Schicksals, fast ihr Ende fürchtete, denn dann würde sie Entscheidungen bezüglich ihrer Zukunft treffen müssen.
Die Rückkehr nach Surrey, wo sie darauf warten würde, dass ein passender Ehemann sie erwählte, war nur eine Option. An ihrem einundzwanzigsten Geburtstag käme sie in den Genuss eines eigenen kleinen Einkommens, doch die zweieinhalb Jahre bis dahin wäre sie noch von ihren Eltern abhängig.
Es sei denn, sie suchte sich Arbeit …
Olivia stand vom Esstisch auf und ging hinauf in ihre
Wohnung, um sich für das Mittagessen bei Venetia anzukleiden.
Venetias Vater Ferdinand Burroughs war tags zuvor aus Deutschland zurückgekehrt, wo er Skizzen vom Dritten Reich für eine Reihe von Gemälden angefertigt hatte. Olivia, die ihn nur aus Schilderungen seiner bewundernden Tochter kannte, freute sich schon darauf, den Mann selbst zu treffen und Berichte aus erster Hand über die Bedrohung durch die Nazis zu hören. Sie steckte ihren Hut fest, streifte ihre Handschuhe über, nahm ihre Tasche und machte sich auf den Weg zum Chester Square.
Wo Venetia sie mit blassem Gesicht und sorgenvoll gerunzelter Stirn begrüßte.
»Was ist los?«, erkundigte sich Olivia, als sie Venetia durch den Eingangsbereich in die Küche folgte, wo die Familie im Sommer Gäste empfing, weil man von dort aus einen guten Blick auf den hübschen ummauerten Garten hinter dem Haus hatte.
»Gin?«, fragte Venetia.
Olivia sah auf ihre Uhr; es war erst halb zwölf. Sie schüttelte den Kopf. »Nein danke, nicht nach gestern Abend.«
»Normalerweise würde ich um diese Zeit auch noch nichts trinken, aber Pup ist ziemlich aus der Fassung nach seinem Aufenthalt in Deutschland.« Venetia schenkte sich eine ordentliche Menge Gin ein und nahm einen großen Schluck. »Er sagt, all das Schreckliche, das in Deutschland passiert, wird in den hiesigen
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