Orchideenhaus
ihnen klar, dass ihr bisheriges Leben vorüber sein würde, wenn der Tag X kam. Und bevor sie dem möglichen Tod entgegenmarschierten, wollten sie jeden Tag so leben, als wäre er ihr letzter.
Aber das konnte Olivia ihrer Großmutter nicht sagen.
»Ja, es gibt einige junge Männer, die … interessiert zu sein scheinen«, antwortete Olivia und gab dem Hausmädchen ein Zeichen, den Teller mit dem unangetasteten Essen abzuräumen. Das Mädchen tat ihr den Gefallen und reichte ihr dafür den ersehnten Kaffee.
»Darf ich fragen, wer?«
»Ach«, sagte Olivia lässig, »Angus MacGeorge, dem gehört halb Schottland, und es macht Spaß, mit ihm zusammen zu
sein, und Richard Ingatestone, sein Vater ist ein hohes Tier bei der Marine, und …«
»Es wäre vielleicht nicht schlecht«, fiel Lady Vare ihr ins Wort, »wenn du einen dieser jungen Männer zum Tee hierher einladen würdest, Olivia, damit ich ihn kennenlernen kann.«
»Ich werde sie fragen, Großmutter, aber momentan ist so viel los, und alle sind Wochen im Voraus ausgebucht.« Sie hob die Einladung hoch. »Nächsten Monat findet in Wharton Park ein Ball für Penelope Crawford statt. Ich könnte dort übernachten.«
»Ich habe Bälle auf dem Land immer langweilig gefunden. Bist du sicher, dass der Aufwand sich lohnt, Olivia? Schließlich borgt Penelope Crawford sich für die Gelegenheit nur das Haus ihres Onkels. Ihre eigene Familie verfügt über kein nennenswertes Vermögen. Ihr Vater Charles ist im Großen Krieg in einem Schützengraben gefallen. Ich bezweifle, dass viele Leute die Veranstaltung besuchen werden.«
Olivia nippte an ihrem Kaffee. »Ich war kurz nach Weihnachten mit Mummy und Daddy in Wharton Park, Großmutter. Mir hat es dort gut gefallen. Darf ich also zusagen?«
»Wenn du dadurch keine wichtige Veranstaltung in der Stadt versäumst und mir die Gästeliste vorlegst, ja.« Lady Vare erhob sich vom Tisch, nahm ihren Gehstock und fragte: »Kommst du zum Lunch?«
»Nein, ich bin im Berkeley verabredet, und hinterher muss ich das Ballkleid abholen, das ich letzte Woche kaputt gemacht habe. Die Schneiderin hofft, dass es bis heute Nachmittag fertig wird. Ich würde es gern am Abend tragen.«
Olivias Großmutter nickte. »Dann also bis morgen früh«, sagte sie, als sie den Raum verließ. »Und bitte pünktlich.«
»Ja, Großmutter, natürlich«, rief Olivia ihr nach. Sie stützte
erleichtert den schmerzenden Kopf in die Hände, um ihre Schläfen zu massieren.
Anfangs hatte Olivia es noch als Nachteil empfunden, ihre Mutter während der Saison nicht bei sich zu haben, doch nun entpuppte sich die Tatsache, dass ihre Großmutter zu alt und müde war, um sie zu begleiten, als wahrer Segen. Sie besaß vollkommene Freiheit, zu tun und zu lassen, was sie wollte, und mit einer Clique zu verkehren, mit der ihre Großmutter nicht einverstanden gewesen wäre. Olivia hatte den Spaß ihres Lebens.
Venetia hatte Olivia unter ihre Fittiche genommen und sie den interessanteren Teilnehmern der diesjährigen Saison vorgestellt. Obwohl als »frivol« verschrien, waren diese jungen Leute kultiviert, intelligent und politisch informiert. Die meisten absolvierten die Saison nur, weil sie mussten.
Statt sich beim Lunch oder spätabendlichen Supper über die Farbe ihrer Ballkleider für den folgenden Abend zu unterhalten, diskutierten die Mädchen, was sie später mit ihrem Leben anfangen wollten. In ihrer Zukunft spielten nicht notwendigerweise Ehe und Kinder eine Rolle, sondern ein Studium oder, falls der Krieg ausbräche, ihre Aufgabe darin.
Olivias Lieblingsort in London war Venetias Stadthaus am Chester Square. Dort wimmelte es immer von ungewöhnlichen Leuten aus der Künstlerwelt, zu der Venetias Eltern zählten.
Venetias Vater Ferdinand Burroughs war ein bekannter Avantgardemaler, in den Venetias Mutter Christina, eine »Lady« aus einer der vornehmsten Familien des Landes, sich verliebt und den sie geheiratet hatte. Christina Burroughs war so, wie Olivia sich ihre eigene Mutter gewünscht hätte. Sie hatte pechschwarze, bis zur Taille reichende Haare — die Olivias Ansicht nach mit ziemlicher Sicherheit gefärbt waren –,
trug auffälliges Augen-Make-up und benutzte einen Jade-Zigarettenhalter.
Christinas Familie hatte sich geweigert, sich mit dem Ansinnen ihrer Tochter auseinanderzusetzen, einen mittellosen jungen Künstler heiraten zu wollen. Also war sie nach London gegangen, um mit Ferdinand zusammen sein zu können, wo sie jahrelang praktisch von
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