Orchideenstaub
dem Harry Steiner allein seinen Gedanken nachhängen konnte.
Juri sah zu Sam. In seinem Blick lag eine Mischung zwischen Respekt und Bewunderung.
„Sieh mich nicht so an, Kleiner.“ Ein hintergründiges Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich hatte keine andere Wahl. Sie hätte uns sonst kurzerhand vor die Tür gesetzt.“
„Du bist ein echter Löwenbändiger, Sam.“
Sam schmunzelte vor sich hin und sah dabei alle Unterlagen, Rechnungen und Papiere auf dem Sekretär durch. Besonders war sein Augenmerk auf kleine Zettel gerichtet, auf denen Dr. Steiner sich schnelle Notizen gemacht hatte. Doch er konnte nichts Auffälliges entdecken, außer dass auf einem die Zahl 1953 ein paar Mal geschrieben, unterstrichen und umkreist worden war.
„Sagt dir die Zahl 1953 irgendetwas?“
Juri sah von einem Planer auf, den er in der Hand hielt und durchblätterte. Er schüttelte langsam den Kopf. „Vielleicht wurde Harry Steiner in dem Jahr geboren?“
„Hatte ich auch schon überlegt, aber das war `59. Der Zettel liegt obenauf, irgendetwas muss ihm gestern dazu eingefallen sein.“
Juri hatte die letzte Schublade durchgesehen und widmete sich nun einem großen Bücherregal. Bis auf die untere Reihe, in der Bücher über Ophthalmologie nach Nummern geordnet standen, lagen in den oberen Regalen alte Bücher kreuz, quer und übereinander. Hier war lange nicht mehr abgestaubt worden, stellte er fest. Als erstes ging er die Reihe durch, die vom Schreibtisch leicht erreichbar war und zog einen kleinen abgegriffenen Lederband heraus. Auf der ersten Seite war ein Bild. Ein Engel und ein Faun. Darunter stand handschriftlich Brasilien 1953. Aber die folgenden Seiten waren leer oder herausgerissen.
Als Sam Frau Steiner das Buch zeigte, war sie überrascht, dass das in dem Bücherregal gestanden hatte, denn sie hatte es noch nie zuvor gesehen. Auch mit der Jahreszahl 1953 konnte sie nichts anfangen. Allerdings erzählte sie ihnen etwas, das entscheidend für den Fall werden sollte.
1955
SãO PAULO Als die neue Besitzerin, Maira da Silva, durch das Portal des umgebauten Klosters schritt, stellten sich plötzlich die feinen Härchen auf ihrem Arm wie kleine Antennen auf. Sie war erst vor einem Monat von Brasil nach Sao Paulo gekommen und hatte sich direkt in dieses Viertel hier verliebt. Zu ihrem großen Glück stand das großzügige Anwesen zum Verkauf und passte perfekt in ihre Pläne.
Der Preis war so gering gewesen, dass sie erst gedacht hatte, der Mann würde einen Scherz machen. Doch als sie ihm den Koffer mit Bargeld überreicht hatte, war er ohne zu zählen in seinem Volkswagen davongefahren.
Und nun stand sie hier und betrachtete das große Wandgemälde ihres Vorgängers. „Blasius“ stand in römischen Lettern darunter. Der Patron der Ärzte, der zum Bischof ernannt wurde und als Märtyrer starb, weil er Jesus Christus als seinen Herrn sah, genauso wie der heilige Georg, der in einer Ecke stand und seine Lanze auf den Drachen unter ihm richtete. Offenbar hatte das Haus einem sehr Gläubigen gehört. Das beruhigte sie und trotzdem war eine eigenartige, eine geradezu erdrückende Energie hier drin.
Sie ging weiter durch die ersten beiden Säle und öffnete am Ende die doppelseitige Holztür und die Fenster, die zum Hof führten. Licht durchflutete den Raum und zeigte nun deutlich seine Macken. Die Wände waren durchzogen von tiefen Rissen und der alte Holzfußboden brauchte auf jeden Fall eine Überholung.
Eine zweite Tür führte zu vier weiteren Sälen, die sie in Schlafräume für die Waisen der Stadt umwandeln wollte. Hier sollten die Straßenkinder von Sao Paulo ein Heim und eine Zukunft finden. Sie sah auf die Uhr. Luano Peres, der Architekt, der mit der Umgestaltung des Hauses beauftragt werden sollte, war mal wieder zu spät. Maira ließ den Blick durch die Räume schweifen. Irgendetwas störte sie. Und dann fiel ihr auf, dass sämtliche Fenster zur Straße hin zugemauert worden waren. Licht fiel lediglich durch die kleinen Fenster zum Gang ein. Maira schüttelte den Kopf, was hatte der Vorbesitzer hier nur gemacht? Das Haus war ja wie eine Festung, geschützt vor den Blicken von außen.
Durch eine knarrende Seitentür betrat sie den Hof. Aus ihm wollte sie einen Paradiesgarten zaubern, voller Vögel und Papageien. Dafür müsste man darüber ein Netz spannen. Den Blick prüfend nach oben gerichtet, ging sie zu dem alten knorrigen Baum in der Mitte, als sie plötzlich über etwas
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