Orchideenstaub
Kommt ganz nach unserer Mutter.“
Sam stimmte Rafael zu. Aber diese Frau war nicht nur äußerlich schön. Er hatte in ihren Augen etwas gesehen, was ihn für einen Moment alles um sich herum hatte vergessen lassen.
48.
Am nächsten Morgen wurde Sam von Hahnengeschrei, einem Rasenmäher und den aufheulenden Motoren abbremsender Lastwagen geweckt, die auf der belebten Landstraße zweihundert Meter weiter vorbeifuhren. Die idyllische Ruhe vom Vorabend war vorbei.
Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah sich in dem kleinen Zimmer um. Auch hier war die Einrichtung spartanisch. Ein alter weißer doppeltüriger Schrank, an dem die Farbe bereits abblätterte, ein Schaukelstuhl und eine weiße Spiegelkommode. Das Holzbett knarrte bei jeder Bewegung und die Matratze war so durchgelegen, dass sich die Federn in seinen Rücken bohrten. Gestern Nacht war er zu müde gewesen, um das noch zu registrieren, dafür tat ihm jetzt der ganze Körper weh.
Hatte Rafael nicht gesagt, dass seine Familie zu den einflussreichsten und wohlhabendsten des Landes gehörte? Er konnte es kaum glauben.
Das Frühstück nahm er mit Rafael im Haupthaus an einer langen Tafel allein ein. Es bestand aus ein paar Rühreiern, Maisfladen, Würstchen und Kaffee.
Sam hatte sich vorgenommen, Rafaels Umfeld genauestens zu studieren, deshalb fuhren sie als Erstes zu seinem Arbeitsplatz ins Heim. Das Heim war von einem hohen Zaun umgeben und nur durch ein großes Tor zu betreten, an dem links und rechts zwei üppige Laubbäume standen. Hätte sich Sam bei der Anfahrt etwas weiter nach vorne gelehnt und nach oben geschaut, wäre ihm etwas Entscheidendes aufgefallen, das verdeckt von ein paar Ästen an einer Stange hing. So aber entging es ihm.
Rafael führte Sam nur durch einen bestimmten Teil des Heimes. Er zeigte ihm die sterbenden Aidskranken, die liebevoll gepflegt wurden, und ein paar Patienten, die für Außenstehende normal wirkten, aber geistig nicht auf der Höhe waren. Sein Vater hatte ihn gestern darum gebeten, vorsichtig zu sein und dem Fremden nicht allzuviel zu zeigen. Nur das Nötigste. Außerdem hatte er ihm etwas erzählt, womit er nicht gerechnet hatte. Seine Schwester Lea hatte während seiner Abwesenheit hinter ihm her geschnüffelt. Eine Tatsache, die ihm überhaupt nicht gefiel. Fraglich war, ob sie bei ihrer Suche fündig geworden war. Er hatte die ganze Nacht kaum geschlafen und sich darüber Gedanken gemacht, ob er Lea einweihen sollte, aber letztendlich kam er zu dem Schluss, dass sie nie und nimmer seine Taten gutheißen würde. Er liebte seine Schwester, aber um sich und sein Geheimnis zu schützen, würde er sie ohne zu zögern opfern.
Rafael betrat mit Sam gerade ein Achtbettzimmer, als er Lea an einem der hinteren Betten stehen sah. Sie drehte sich zu ihnen um und lächelte. Sie lächelte aber nicht ihn an, sondern seinen Begleiter. Für Rafael stand fest, dass er schnell handeln musste, denn sollte sie sich diesem O´Connor anvertrauen, wäre es endgültig um ihn geschehen. Fast wären sie ihm in Berlin schon auf die Schliche gekommen, glücklicherweise hatte er das gerade noch abwenden können, dank seiner Vorsichtsmaßnahmen.
„Ich hatte dich heute noch gar nicht hier erwartet, Rafa. Deshalb habe ich noch eine Visite gemacht.“ Lea stand plötzlich vor ihnen. Sie sprach zwar mit ihm, ließ aber diesen O´Connor nicht aus den Augen. „Was ist los mit dir? Du siehst irgendwie reichlich angespannt aus.“
„Was soll sein. Alles bestens“, antwortete er, ohne eine Miene zu verziehen.
Sie boxte ihm leicht in den Bauch und sagte fröhlich. „Hey, Bruderherz, ich kann bereits einen Tornado am Horizont erkennen. Also raus damit.“
„Wir reden später, Lea.“
Rafael war gerade im Begriff hinauszugehen, dicht gefolgt von Sam, als der Kopf einer Schwester hinter einem Vorhang erschien. „Dr. Rodriguez, wie schön, dass Sie wieder da sind. Könnte ich einen Moment mit Ihnen sprechen.“
Rafael warf Sam einen Blick zu, der so viel hieß, wie: bin gleich wieder zurück, und verschwand ebenfalls hinter dem Vorhang.
Sam hasste nichts mehr als Krankenhäuser und Irrenanstalten, die er in den letzten Jahren nur allzu oft besucht hatte. Eine schmerzhafte Erinnerung an seine Schwester Lily kehrte zurück, nur ausgelöst durch die verschiedensten Gerüche dieser Institution. Lea sah zu ihm rüber.
Sie hielt einen blauen Kugelschreiber in der Hand, bei dem sie unaufhörlich – wohl
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