Orchideenstaub
geschickt haben könnte?“
„Sie waren in einem Umschlag an der Portería abgegeben worden.“
Sam nahm das erste bereits vergilbte Blatt zwischen die Fingerspitzen und las leise und langsam Zeile für Zeile.
Gedichte waren wie eine fremde Sprache für ihn. Schon in seiner Schulzeit hatte er bei Gedichtinterpretationen kläglich versagt. Er seufzte und überflog das zweite. Sorgfältig legte er alle drei nebeneinander auf seinen Nachttisch. „Dafür brauche ich Zeit und Ruhe. Sie sagten, das erste bekamen Sie vor etwa zwölf Jahren? Heißt das …“
„Bevor Sofía … ja.“
„Sie haben also keines vor Mayas Verschwinden bekommen?“
„Nein.“
„Und das letzte, nehme ich an, kam vor etwa einem Monat?“
„Ja, stimmt.“ Rafael sah ihn wie ein neues, gerade entdecktes Weltwunder an. Ein Genie musste man nicht sein, um da ein Muster zu erkennen, dachte Sam, ließ aber Rafael in dem Glauben, gerade das zu sein. Das würde ihm vielleicht etwas mehr Respekt einbringen. „Haben Sie sich nie Gedanken darüber gemacht, warum die Gedichte ausgerechnet auf Deutsch geschrieben wurden?“
„Ja und nein. Ich dachte an einen Schulkameraden oder jemand aus der Uni, an der ich mal Deutsch unterrichtet hatte.“
„Okay, ich brauche zwei funktionsfähige Handys, eine Liste ihrer Angestellten, Freunde, Menschen, mit denen Sie es täglich zu tun haben und sofort einen Computer mit Internetzugang.“
„Sollen Sie haben. In einer Stunde sind Sie drüben zum Essen eingeladen, soll ich Ihnen von meiner Mutter ausrichten.“
Eine Stunde später kam Sam in das Vergnügen, die komplette Familie kennenzulernen. Lea war die letzte, die eintraf. Sie hatte sich ein rückenfreies knielanges rotes Kleid angezogen und sah schlichtweg umwerfend darin aus. Ihr aschblondes Haar trug sie glatt und offen, ihre katzenartigen Augen hatte sie leicht geschminkt, was sowohl Rafael Rodriguez als auch sein Vater mit missbilligenden Blicken bemerkten.
Felipe saß mit großen Pupillen am Tisch und kratzte sich permanent. Seine Bewegungen waren fahrig und wirkten nervös. Eine der Nebenwirkungen einer Droge, die man hier Queso oder Basuca nannte, in Deutschland und Amerika unter dem Namen Crack lief. Felipe musste schon ziemlich lange auf dieser Droge sein, denn seine Zähne waren teilweise verfault.
Rafael hatte Sam auch über die anderen `Handicaps´ seiner Geschwister informiert, damit Sam sie von der Liste der Verdächtigen streichen konnte.
Lea war die einzig Normale. Sie hatte ihm gegenüber Platz genommen und Sam fiel es schwer, sie nicht anzusehen. Ihre Haut schien wie in Eselsmilch gebadet zu sein und lud regelrecht ein, darüber zu streichen. Ihre türkisfarbenen Augen funkelten und wurden durch das rote Kleid noch mehr betont. Einfach perfekt, dachte Sam und widmete sich schließlich seinem Teller, auf dem ein zartes Rinderfilet, Reis, gedünstetes Gemüse und gebratene Bananen lagen. Gebetet wurde vor dem Mahl nicht, wie er es in einem katholischen Haushalt erwartet hatte, und während des Essens wurde kein Wort gesprochen. Sam war es nur recht, da er schon wieder müde wurde. Die sieben Stunden Unterschied machten ihm doch etwas zu schaffen.
Er war völlig entspannt, als Lea sich räusperte und fragte: „Sagen Sie Señor Kreibich … wie entsteht eigentlich so eine Hodentorsion?“
Sam legte sein Besteck zur Seite und sah sie ein paar Sekunden an. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, dass Rafael gerade ansetzen wollte, etwas zu sagen.
„Nun das kann verschiedene Ursachen haben, aber meist entsteht sie durch eine ungünstige Bewegung. Eine akute Stieldrehung von Hoden und Nebenhoden mit Unterbrechung der Blutzirkulation und einer hämorrhagischen Infarzierung kann jedem Mann in jedem Alter passieren und ist sehr schmerzhaft. Ich denke, Ihr Patient wird operiert werden müssen. Ich hoffe, mein Spanisch ist verständlich genug.“
„Lea, muss so etwas am Tisch besprochen werden? Es tut mir sehr leid, Señor Kreibich“, entschuldigte sich Rafaels Mutter und warf Lea einen mahnenden Blick zu.
Rafael hielt sich die Serviette vors halbe Gesicht und entschuldigte sich für einen Moment, während Lea Sam skeptisch ansah.
„Es tut mir leid, wenn ich heute unprofessionell gewirkt habe, aber ich bekomme nach einem Flug meist Migräne und die wirft mich dann immer etwas aus der Bahn.“
Nach der Hauptmahlzeit wurde der Tisch von einer Angestellten abgeräumt und der Nachtisch, eine Mangocreme, auf einer Anrichte
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