Orchideenstaub
Großeltern väterlicherseits kennenzulernen. Es war, als würde ein Leben vor ihnen gar nicht existieren. Selbst ihre Mutter wusste nicht allzu viel über ihn zu erzählen, oder wollte sie vielleicht auch nicht. Aber dass Rafael sich in was auch immer hatte reinziehen lassen, konnte sie nicht glauben. Er war ein guter Mensch.
Plötzlich trafen sich ihre Blicke. Die eiskalten stahlblauen Augen ihres Vaters durchbohrten sie, als könnte er ihre Gedanken lesen. War ihm vielleicht doch aufgefallen, dass die Schlüssel nicht mehr an ihrem Platz lagen? Oder hatte das Gedächtnis ihrer bekloppten Schwester doch länger angehalten, als erwartet und sie hatte Lea verpetzt? Leas Nase und Hände wurden ganz kalt vor Schreck, aber sie hielt dem Blick stand und brachte sogar ein Lächeln über die Lippen, das nicht erwidert wurde.
„Lea, ich möchte mit dir reden. Fahre mich in mein Zimmer.“ Im Gegensatz zu seinem gebrechlichen Körper war die Stimme fest und duldete keinen Widerspruch.
Lea ging hinter seinen Rollstuhl und schob den Greis den langen Flur hinunter. Sie versuchte ihre innere Aufregung zu kontrollieren, die ihr schier den Atem nahm. Konnte sie sich doch noch allzu genau an die Ängste in ihrer Kindheit erinnern, die sie allein schon beim Erscheinen ihres Vaters verspürt hatte. Einmal hatte er sie wegen Nichtgehorsams so mit dem Gürtel verprügelt, dass die Narben auf dem Oberschenkel heute noch zu sehen waren.
Als sie das Zimmer des alten Mannes erreichten, hievte sie etwas umständlich den Rollstuhl über die Schwelle.
„Was hast du in meinem Zimmer verloren gehabt, Lea?“
„Die Tür war offen und ich habe ein Geräusch gehört, als ich zur Toilette ging.“
„Und? Was hatte das Geräusch verursacht?“, fragte ihr Vater in zynischem Unterton.
„Es war der Fensterladen. Er war offen gewesen und der Wind hatte ihn gegen das Fenster geschlagen. Ich habe ihn festgemacht.“
Lea wich dem Blick ihres Vaters nicht aus. Sie wusste, wenn sie das tat würde er erkennen, dass sie log.
„Geh. Verschwinde“, sagte er kalt.
Das ließ sie sich nicht zwei Mal sagen. Ihr Herz raste, als sie den Flur zurückging und dann hörte sie, wie eine Schublade aufging und das Geräusch, wenn Metall auf Metall stieß. Ihr Vater hielt gerade den Schlüsselbund in der Hand und Lea legte einen Schritt zu.
47.
Sam saß seit neun Stunden im Flieger und hatte so viel Pfefferminzbonbons zerkaut, dass ihm ganz schlecht davon war. Der Flug war die ersten fünf Stunden ruhig gewesen, dann hatten die gefürchteten Turbulenzen angefangen.
Rafael Rodriguez hatte nach dem Start ein großzügiges Mahl zu sich genommen, ein paar Gläser Whiskey getrunken und war direkt danach eingeschlafen, während er an die Maschine gedacht hatte, die vor ein paar Jahren in Kolumbien über der Stadt Cali abgestürzt war. Anstatt den Überlebenden zu helfen, hatten die Einheimischen nicht nur das Gepäck der Reisenden geplündert, sondern auch den Sterbenden die Goldzähne herausgerissen. Als die ersten Rettungsmannschaften eintrafen, waren alle tot. Zu was für einem Volk flog er da.
Der Kapitän kündigte durch den Lautsprecher an, dass sie sich auf dem Landeanflug auf den internationalen Flughafen El Dorado in Bogotá befanden.
Schräg auf der anderen Seite saß eine ältere Dame, betete den Rosenkranz und bekreuzigte sich zwischendurch immer wieder.
Sam sah zu Rafael. Der Mund war leicht geöffnet, seine Lider zuckten und ab und zu kam ein Röcheln aus seiner Kehle wie bei einem sterbenden Tier. Der Mann war die Ruhe selbst, obwohl gerade seine dritte Frau bestialisch ermordet worden war. Aber vielleicht hatte das auch mit seinem Glauben zu tun. Seine Frau war im Himmelsreich angekommen.
Auf dem Flughafen in Frankfurt war Rafael bei der Kontrolle aus Versehen einer Frau auf den Fuß getreten. Entschuldigung, Señora hatte er zu ihr gesagt. Das war der Moment, bei dem es Sam kalt den Rücken runtergelaufen war. Der Mann, der Harry Steiner vor dem Hotel angestoßen hatte, hatte dieselben Worte benutzt, eine Mixtur aus Deutsch und Spanisch. Wieder fragte er sich, ob er neben einem eiskalten Mörder saß oder ob die Schicksale Rafael Rodriguez so abgestumpft hatten, dass er gar nicht anders konnte, als das Geschehene einfach zu verdrängen. Jeder schützt seine Seele auf eine andere Weise, dachte Sam, der vor einiger Zeit selbst Opfer einer solchen Situation gewesen war und sah aus dem Fenster.
War es vielleicht möglich,
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