Orchideenstaub
dass jemand Rafael Rodriguez so gut kannte oder studiert hatte, dass er ihn perfekt kopierte?
Die Maschine flog durch eine dicke Wolkendecke. Kurz darauf konnte Sam unter sich die gewaltigen Ausmaße der kolumbianischen Metropole erkennen. In keine der Himmelsrichtungen war ein Ende der Stadt zu sehen.
Drei Stunden später und nach einem weiteren Kurzflug fuhren sie in einem gelben Taxi, dessen Innenausstattung in Deutschland längst auf der Müllhalde gelandet wäre, die serpentinenreiche Straße Richtung Medellin entlang.
Inzwischen war es stockdunkel, nur ab und zu blitzten Lichter von Finkas zwischen den Bäumen hervor. Sam war etwas flau in der Magengegend. Fuhren sie wirklich Richtung Stadt, oder entfernten sie sich eher davon? So ganz wollte er Rafael Rodriguez nicht trauen. Doch dann kamen sie über einen Berg und plötzlich öffnete sich der Blick auf die Stadt, die aussah als läge funkelnder Goldstaub auf ihr.
Noch heute Abend würde er die Familie von Rafael Rodriguez kennenlernen und vielleicht einem alten Naziverbrecher gegenüberstehen.
Als sie die Stadt erreichten, waren die Straßen zwar belebt, aber es war nicht so wie in Kairo, wo der Verkehr geradezu unangenehm und fast gefährlich gewirkt hatte. Hier war er fließend und es dauerte nicht lange, da waren sie schon wieder aus der Stadt heraus und fuhren die Autopista Richtung Süden. Sam versuchte sich alles einzuprägen, damit er, falls es notwendig war, auch allein wieder den Weg in die Stadt finden würde.
Endlich erreichten sie eine große Toreinfahrt, die direkt von der Landstraße abging. Der Portero, in einem kleinen Häuschen sitzend, inspizierte den Wagen. Als er sah, dass Rafael im Taxi saß, ging das Tor automatisch auf. Er grüßte freundlich und dann zeigte Rafael mit ausschweifender Handbewegung auf eine hell beleuchtete weiße Finka neben einem Teich. Ein weitläufiger Garten führte um die Finka herum und die hohen Palmen, die neben dem Teich standen, wurden von unten mit bunten Strahlern beleuchtet.
„Willkommen in meinem Heim, Señor O’Co …, Kreibich“, verbesserte er sich schnell. „Tut mir leid, ich hoffe der Patzer kommt nicht wieder vor.“
„Sie sollten sich selbst den Gefallen tun, Rafael. Denn sollte sich der Mörder nicht zeigen, stehen Sie als Hauptverdächtiger wieder ganz oben auf der Liste.“
„Schon klar.“
Das Taxi fuhr eine hundert Meter lange Auffahrt hoch, die links und rechts von großen Bambuswäldern und Orchideenbeeten gesäumt war, auf einen Platz zu, in dessen Mitte ein beleuchteter Steinbrunnen stand. Zwei große Toyota Geländewagen parkten direkt vor der doppelflügeligen Eingangstür, die weit offen stand und einen ersten Einblick ins Hausinnere zuließ.
Kaum waren Rafael und Sam aus dem Taxi gestiegen, kam eine ältere Dame aus dem Haus. „Rafa, wie schön, dass du wieder da bist.“
Sie lächelte warmherzig und Sam konnte erkennen, dass die zierliche Frau in jungen Jahren eine Schönheit gewesen sein musste. Sie trug ein schlichtes graues Kostüm und um ihren Hals hing unübersehbar ein Kruzifix als Zeichen ihrer christlich-frommen Gesinnung. „Das ist also der nette Besucher, von dem du erzählt hast. Señor Kreibich freut mich, Sie hier als Gast willkommen zu heißen. Jorge wird Ihre Sachen ins Gästehaus bringen.“
Neben ihr war ein dunkelhäutiger Mann mit Oberlippenbart aufgetaucht, der sich Sams Reisetasche griff und sie zu einem angrenzenden kleinen Haus brachte, während Sam Rafael und seiner Mutter ins Hausinnere folgte.
Die Möblierung war alles andere als pompös. Sie schien nach der Fertigstellung der Finka vor rund fünfzig Jahren gekauft oder angefertigt worden zu sein und seitdem zierte sie das Haus. Reich und bescheiden oder reich und geizig?, dachte Sam und nahm einen blutroten Saft entgegen, der ihm von einer Angestellten auf einem Tablett gereicht wurde.
Rafael sah ihr nach, wie sie leise im hinteren Teil des Hauses verschwand. „Ist sie neu? Wo ist Aleida? Hat sie Urlaub?“, fragte er irritiert seine Mutter.
„Sie ist …“
„Tot.“ Rafael und Sam drehten sich gleichzeitig zu Diego Rodriguez um, der hinter ihnen in seinem Rollstuhl aufgetaucht war. Das einsame Wort, das allein für sich schon so viel aussagte, blieb im Raum stehen und schien ihn für einen Moment ganz auszufüllen.
Rafael sah von seinem Vater zu seiner Mutter, die der Aussage nicht widersprach. „Aber wie? Ich meine wieso, wie kann das sein? Was ist denn passiert?“
Sam
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