Orchideenstaub
ohne es zu merken – laut klickend die Mine rein- und rausdrückte. „Dr. Kreibich, wir haben einen Patienten mit einer Hodentorsion. Uns ist es erst jetzt aufgefallen. Ich hoffe nicht, dass eine Orchidopexie erforderlich ist. Vielleicht könnten Sie sich ihn mal ansehen. Wenn man schon mal einen Urologen im Haus hat …“ Sie zwinkerte ihm aufmunternd zu.
Sam bekam einen Schweißausbruch und das Blut schoss ihm in den Kopf. Was hatte sie gesagt? Hodenpexie? Konnte es sein, dass er in der Rolle als Urologe noch irgendwelche fremden Geschlechtsteile anfassen musste? Bei der bloßen Vorstellung wurde ihm schon übel.
Lea zog ihn am Arm zu einem Bett, während Sam Hilfe suchend zu dem zugezogenen Vorhang blickte, hinter dem Rafael sich gerade unterhielt. Die Bettdecke eines Mannes im mittleren Alter wurde zurückgeschlagen und eröffnete Sam den Anblick auf einen großen roten geschwollenen Hodensack. Er versuchte Haltung zu bewahren, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, aber so richtig gelingen wollte ihm das nicht, denn Lea sah ihn plötzlich besorgt an. „Dr. Kreibich?! Geht es Ihnen nicht gut?“
„Lea, wie kannst du es wagen!“, dröhnte es hinter ihnen. Rafael kam im Sauseschritt auf die beiden zu. „Dr. Kreibich ist nicht hierher gekommen, um sich dicke Eier von irgendwelchen Patienten anzusehen. Ruf Dr. Aranzaso an. Der ist dafür zuständig.“
Lea kniff die Augen zusammen, ihre vollen Lippen wurden schmal und die Knöchel an ihren Händen wurden weiß. Sam erwartete ein Kontra, aber Lea blieb zu Sams Erstaunen ruhig und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen, aus dem Saal.
49.
Lea war wütend, so wütend, dass sie am liebsten ihren Bruder vor versammelter Mannschaft bloßgestellt hätte. Doch in letzter Sekunde hatte sie sich an ihren Plan erinnert und sich zusammengerissen. Ihn nur zur Rede zu stellen würde nichts bringen. Dafür kannte sie ihn zu gut. Wie ein Aal würde er sich um sein eigenes Lügengebilde winden und anschließend alle Spuren beseitigen. Sie musste Rafael auf frischer Tat ertappen. Das war ihre einzige Chance.
Noch immer plagte sie ein schlechtes Gewissen, ob sie auch das Richtige tat. Immerhin war er ihr Bruder, aber wenn Unschuldigen und Wehrlosen, Unrecht geschah, würde sie sich sogar mit ihrem Leben einsetzen.
Sie hatte Nathalia auf ihrer Seite und sie war genauestens im Bilde über jeden einzelnen Patienten. Keiner schwebte zurzeit in Lebensgefahr. Bei einem plötzlichen Ableben würde sie sofort informiert werden. Auch wenn Rafael sich im unteren Bereich des Heimes länger aufhalten sollte.
Und dann war da noch dieser Dr. Kreibich, der mit ihrem Bruder aus Europa angereist war. Er ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Zugegebenermaßen war der Mann einer der attraktivsten, den sie in den letzten Jahren kennengelernt hatte und wenn sie noch zwanzig wäre, hätte sie sich sofort in ihn verliebt. So hielt sie sich mit ihren Emotionen zurück. Doch die Szene im Heim sprach für sich. Den Blick von Dr. Kreibich, als er den geschwollenen Hodensack gesehen hatte, konnte sie nicht mehr vergessen. Er war regelrecht schockiert gewesen. Machte das Sinn? Ein Urologe, der beim Anblick eines Geschlechtsteiles rot wurde?
Lea kam zu dem Schluss, dass ihr Bruder irgendetwas im Schilde führte und dass Dr. Kreibich nicht der war, der er vorgab zu sein. Die Frage war nur, wer war der Mann wirklich? Sie würde sich etwas Nettes ausdenken, um seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen.
50.
Der Beamte und Schutzengel von der Fiscalía war ein Meter fünfzig groß, kräftig gebaut, hatte ein hübsches Gesicht, schulterlanges dickes schwarzes Haar und hieß Nelly.
Sam überlegte, ob er Brenner anrufen und ihn fragen sollte, ob es sich hier um einen üblen Scherz handelte, aber dann schalt er sich selbst einen Idioten. Man sollte sich nie von Äußerlichkeiten täuschen lassen. Wahrscheinlich hatte der Zwerg vor ihm mehr auf dem Kasten als so mancher deutscher Kollege.
Sie saßen in einem Eckrestaurant, direkt an der Hauptstraße in Poblado und Sam erzählte Nelly, wie weit ihre Ermittlungen in Deutschland gegangen waren und dass Rafael Rodriguez für zwei Morde ein handfestes Alibi hatte, alles andere aber auf ihn hindeutete.
Nelly hatte stillschweigend zugehört. Sie hatte weder genickt, gelächelt, noch mit der Wimper gezuckt und Sam hatte keinen blassen Schimmer, ob sie ihn und sein Spanisch überhaupt verstanden hatte. Doch dann sagte sie:
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