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Orient-Express (German Edition)

Orient-Express (German Edition)

Titel: Orient-Express (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dos Passos
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oder Prüfungen. Aber auch in Musik und Sport und Schauspiel wird es Unterricht geben. Die Künste müssen offen sein für jeden, der auf diesem Gebiet tätig sein will. Doch am wichtigsten ist die Natur. Die Schüler müssen stets draußen sein auf den Feldern und in den Wäldern, in den Gärten, wo Bienen sind ... Unsere ganze Hoffnung sind die Kinder ... in den Gärten, wo Bienen sind.»

5. Der Wanzenexpress
     
    «Das gibt’s doch nicht», hatte der baumlange Schwede gesagt, als er und ich und ein besonders übel aussehender Levantiner mit Zwirbelbart in Batum nicht an Land gelassen wurden. «Das gibt’s doch nicht», hatte er gesagt und auf den verwahrlosten Hafen gezeigt und auf die langen Dächer der grauen und schwarzen Stadt, inmitten dichter grüner Bäume, und auf die blauen und purpurroten Berge in der Ferne und die Rotgardisten, die am Kai herumlungerten, und auf das Hafenamt mit dem aufgemalten Hammer und Sichel der Sowjetrepublik. Zuletzt sah ich ihn an der Gangway, der Stehkragen schnitt ihm in das fleischige Kinn, er schüttelte den Kopf und murmelte immer wieder: «Das gibt’s doch nicht.»
    An ihn musste ich denken, als ich, zusammen mit einem arroganten Dolmetscher und einem fröhlichen Mann vom N.E.R. 11 , dessen größte Sorge eine Typhusepidemie war, vor dem Schnellzug nach Tiflis stand, in der Hand einen Haufen Papiere, Dokumente in georgischer und russischer Sprache, Transportanweisungen, Schlafwagenbilletts, ein Passierschein der Tscheka und einer vom Kommissar für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Adscharien. Der Zug bestand aus einer Lokomotive, drei großen unlackierten Schlafwagen und einem äußerst klapprigen Dienstwagen. Ein Waggon war für Zivilbeamte vorbehalten, einer für das Militär und einer für die Allgemeinheit. Bislang war alles sehr seriös gewesen, aber das Problem war, dass der Zug schon vor der Einfahrt von mehr als siebentausend Personen erstürmt worden war, Soldaten in weißen Kitteln, Bäuerinnen mit Bündeln, Männern mit enormen Schnauzbärten und Pelzmützen, Spekulanten mit ihren Waren und ehrlichen Proletariern mit Brotlaiben, so dass Massen von Menschen schwitzend und lachend und schiebend und drängelnd die Waggons unter sich begruben wie Fliegen ein Stück Würfelzucker. Die Dächer waren bis auf den letzten Zentimeter besetzt, Leute hingen in Trauben an den Türen, saßen auf dem Kohlentender, auf der Lokomotive. Aus jedem Fenster hingen Beine von Hineinkletternden. Wer schon an Bord war, verbarrikadierte sich in seinem Abteil und versuchte, die Nachdrängenden mit erstaunlicher Liebenswürdigkeit wieder aus dem Fenster zu bugsieren. Derweil lief der amerikanische Orientreisende schweißgebadet mit seinem Koffer den Bahnsteig auf und ab, um ein winziges Plätzchen für sich zu finden. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als sich an den Chef zu wenden. Der Chef leistete Hilfe, indem er ihn am Hosenboden packte und mitsamt Koffer durch das Fenster in ein Abteil voll riesengroßer Männer in riesengroßen Stiefeln hievte, sechs der sieben Soldaten, die auf seinem Platz saßen, wurden hinausgeworfen, alle setzten sich wieder, gruben ihre Fremdsprachenkenntnisse aus und warteten seelenruhig und schwitzend auf die Abfahrt des Zuges.
    Schließlich, nach immer neuen Gerüchten, dass wir an diesem Tag nicht mehr abfahren würden, dass die Strecke zerstört sei, dass eine grüne Armee Tiflis eingenommen habe, dass der Bahnverkehr wegen Cholera eingestellt worden sei, ging es los, ohne dass ein Abfahrtssignal zu hören gewesen wäre. Der Zug wand sich langsam durch den üppigen jade- und smaragdgrünen Dschungel der Schwarzmeerküste, den hohen Bergen im Nordosten entgegen, die im Abendlicht unvorstellbare Pfauenfarben annahmen. Im Abteil wurde Schwarzbrot gegessen, und ich versuchte, auf Französisch und Deutsch eine Art Gespräch zu führen. Jemand klagte über den Mangel an Industriegütern, Farbe und Damenstrümpfen und Medikamenten und Autoersatzteilen und Seife und Bügeleisen und Zahnbürsten. Ein anderer sagte, dass diese Dinge nicht notwendig seien: die Berge werden uns Wolle liefern, die Felder Lebensmittel, die Wälder werden uns Häuser liefern; soll jedermann sein eigenes Brot backen und seine Kleidung selbst spinnen und sich sein eigenes Haus bauen: auf diese Weise werden wir zufrieden und unabhängig von der Welt sein. Wenn sie nur nicht so viel Wert auf die Industrialisierung legen würden. Aber in Moskau glauben sie, wenn wir nur

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